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Schlagwort-Archive: Streitkultur

Das politische Ehrenamt, ob in Parteien, Gremien oder Mandaten, kann sich manchmal als ziemlich schwierig erweisen, beispielsweise wenn man Anfeindungen oder persönlichen Angriffen ausgesetzt ist. Politik muss auch nicht täglich Freude machen, aber sie sollte einem schon, wie jedes andere ehrenamtliche Engagement auch, in Summe etwas zurückgeben, vielleicht sogar etwas wie Sinn stiften, wenn man sich für andere einsetzt und für mehr als nur das eigene unmittelbare Interesse. Und schließlich kann es einen sogar weiterentwickeln und manchen den Berufseinstieg ermöglichen. Parteien und Parlamente sind auf solche „Schulen der Demokratie“ angewiesen, wenn sie auf Dauer ausreichend qualifiziertes Personal gewinnen wollen.

Beleidigt sein löst keine Probleme

Wie Politik gemacht wird, kann recht hässliche Seiten zeigen. Intrigen, üble Nachrede und Hetze waren schon in den griechischen und römischen Republiken gängige Methoden der Mehrheitsbeschaffung. Wir bestehen natürlich in und außerhalb unserer Partei auf der Einhaltung demokratischer Verfahren und Respekt gegenüber allen, und erst recht gegenüber jenen, die sich für unser Gemeinwesen engagieren. Aber wenn diese Regeln missachtet werden, wenden wir uns nicht einfach beleidigt ab. Sonst überließen wir ja denen das Feld, die gezielt auf diese Regelverletzungen setzen. Mehr noch: wir würden den Charakter von Politik verkennen. Denn da gibt es nichts umsonst oder geschenkt, alles muss man sich hart erkämpfen. Es geht um knallharte Interessen und darum, dass nicht alle gleichermaßen unter Missständen leiden. 

Es gibt nichts geschenkt 

Wie hart die Bandagen sind und wie mitleidlos da gekämpft wird, lässt sich derzeit bei den globalen Klimafragen beobachten. Während die einen deswegen in Jahrhundertfluten absaufen, wollen andere nichts an ihrem verschwenderischen Wohlstandsmodell ändern. Manche fühlen sich sogar als Opfer und im Freiheitskampf, und zur „Selbstverteidigung“ scheint ihnen jedes Mittel recht. Wenn wir uns da behaupten wollen, müssen wir uns auf den Kern unserer politischen Anliegen konzentrieren und nicht ablenken lassen. Denn eine immer wieder erstaunlich erfolgreiche Taktik besteht im Anzetteln von Scheingefechten, Debatten über Formfragen, statt über Inhalte, und Angriffen „ad personam“, wenn einem die Argumente ausgehen. Dagegen hilft nur, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Politisch entscheidend ist, wie Helmut Kohl mal formulierte, „was hinten rauskommt“. Oder, wie die Römer die Schlüsselfrage stellten: „Cui bono?“, wem nützt es. 

Bohren, Bohren, Bohren

Natürlich ist es vernünftig, sich die Kräfte einzuteilen und sich nicht an der falschen Stelle zu verkämpfen. Wenn es im jeweiligen Ehrenamt zu viel Reibungsverluste gibt, versucht man besser einen neuen Ansatz, dem Ziel beizukommen. Der deutsche Soziologe Max Weber spricht nicht umsonst von der Politik als dem „Bohren dicker Bretter“. Wenn man das zum ersten Mal liest, macht man sich noch keine Vorstellung davon, wie lang das wirklich dauern kann. Manchmal glaubt man nach 20 oder 30 Jahren, erste Fortschritte erkennen zu können. Aber meist muss man feststellen, dass allenfalls das „Problembewusstsein“ in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, beispielsweise in der Landwirtschaft, beim Arten- oder beim Klimaschutz, aber bei weitem nicht im Tempo der Probleme. Je dicker das Brett, desto wichtig ist es, immer weiter und mit ganzer Kraft an derselben Stelle zu bohren, und zwar am besten gemeinsam mit anderen. Deshalb sind wir in der grüne Partei, weil wir solche Mammutaufgaben allein nicht stemmen. 

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Zum Jahresausklang bekommen wir regelmäßig und meist unverlangt eine gehörige Portion politischer Moralisiererei. In jüngster Zeit ist die vermeintliche ökologische Scheinheiligkeit der Menschen eines der Lieblingsthemen nicht nur der Predigten des Feuilletons, sondern auch in den Wirtschaftsseiten. „Trotz mieser Öko-Bilanz wurden 2019 so viele SUVs verkauft wie nie“, macht die SZ ihre Titelseite auf – https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zipse-bmw-suv-umwelt-klima-1.4737399 („Auf großer Fahrt“, 28.12.2019): „Das Jahr 2019 war geprägt vom Klimaschutz, vom Nachdenken über Ressourcen und der Debatte um nachhaltigeres Vorankommen per Bahn, Flugzeug und Auto. Im täglichen Handeln war davon aber nichts mehr zu spüren, wie sich nicht nur bei weitgehend gleichbleibenden Passagierzahlen im Flugverkehr zeigt: 1,08 Millionen SUVs und Geländewagen, so viele wie noch nie, wurden bis November hierzulande verkauft“. Die SZ beginnt dann gleich mit der Suche, warum diese beiden Entwicklungen, also mehr ökologisches Bewusstsein und zunehmende Klimazerstörung, sich zwar jeweils beschleunigen, aber so gar nicht zusammenpassen.

Fetisch „kognitive Dissonanz“

Schuld waren natürlich die Verbraucherinnen und Verbrauchern: „80 Prozent der Deutschen befürworten Klimaschutz und wollten weniger Ressourcen verbrauchen“. „Wieso aber liegt dann die durchschnittliche PS-Zahl bei 170?“, fragt der Soziologe Stephan Rammler, gibt aber keine Antwort. Dafür kommentiert er überlegen: „Das ist verlogen, eine kognitive Dissonanz.“ Immerhin hat er ein paar Hinweise, woher diese Dissonanz kommen könnte. Zum einen verweist er darauf, dass diese Fahrzeuge „funktional nicht mehr angemessen sind“, es muss also andere Gründe geben, warum sie „größer werden“. Zum anderen führe die wachsende Größe „nachweislich zu aggressiverem Fahren und dadurch bei den anderen zu mehr Unsicherheitsgefühl“ und zu einer „Spirale der Aufrüstung“ und einer zunehmenden Gefährdung der „ohnehin schwächsten Verkehrsteilnehmer“ wie Radfahrer*innen. Nun haben es Soziolog*innen nicht so gern, dass wir Sterblichen mit der Analyse allein nicht zufrieden sind, sondern handlungsorientiert Politik machen wollen und nach Vorschlägen fragen. Aber auf einen Missstand lediglich hinzuweisen und dann gar noch zu moralisieren, führt zu Zynismus und Stagnation, weil es den Weg zu Alternativen verschließt.

Moral ersetzt keine Analyse

Ein moralisches Urteil, das einer Entscheidung und damit denen, die entscheiden, lautere Grundlagen abspricht, öffnet die Kluft zwischen Kritik und Handeln weiter, statt diese verringernde Brücken zu bauen. Wenigstens verweist der Artikel selber direkt und indirekt auf nachvollziehbare Ursachen für den Boom der SUVs. Denn die Entwicklung ist „gut für die Autohersteller: Viele Kunden finden Größe attraktiv, das treibt die Preise nach oben“. „High-End-SUVs liefern wichtige Gewinne, die in einer Zeit der Transformation hin zur E-Mobilität dringend gebraucht werden“, sagt der „Autoforscher“ Ferdinand Dudenhöffer. Nun werden Gewinne im Kapitalismus ja immer „dringend gebraucht“, aber das Stichwort „Transformation“ hilft schon mal gegen das von Dudenhöffer ebenfalls benannte „Dilemma“: Denn „gleichzeitig baut sich ein soziales Akzeptanzproblem auf“. Selbst der Opel-Chef ist „kein Freund von ganz großen SUVs, sie kommen kaum in die Parkhäuser, das ist gesellschaftlich nicht mehr vermittelbar“.  Und Dudenhöffer ergänzt: „Für das Platzproblem in den Großstädten fehlt die Lösung“. Aber SUVs sind ja gerade eine Lösung für das Problem, dass viele heute um den Platz, der ihnen ihrer Meinung nach zusteht, kämpfen müssen: Ein SUV verschafft sich und seinem Fahrer oder seiner Fahrerin ordentlich Platz.

Diagnose Verbraucherdilemma verdeckt politisches Versagen

Tim Jackson hat sich in „Wohlstand ohne Wachstum“ mit Geltungskonsum auseinandergesetzt, also damit, wie sehr unsere Konsumbedürfnisse vor allem statusgetrieben sind: https://seppsblog.net/2014/02/11/zwischen-zwangen-und-zielen/. Dass diese Karren was hermachen und ordentlich was verbrauchen an Sprit und Platz, ist in der Konkurrenz um Anerkennung und öffentlichem Raum für diejenigen, die sich mit ihnen sehen lassen, ein Vorteil. Es ist ja nicht der einzige gesellschaftliche Konflikt, bei dem „kognitive Dissonanz“ entsteht, bei dem also das, was einzelne politisch für richtig finden, diametral von dem abweicht, was für sie persönlich Sinn macht. Beispielsweise ist ja schon seit vielen Jahrzehnten klar, dass in der Agrarpolitik das Prinzip „Wachsen oder Weichen“ zwar dem einzelnen Bauern hilft, vorübergehend in der Konkurrenz zu bestehen, aber mittelfristig dazu führt, die Konkurrenz weiter zu verschärfen. Deshalb fordert die staatliche einzelbetriebliche Förderung noch immer Wachstum, obwohl Staat und EU schon längst nicht mehr mit den Überschüssen zurechtkommen. Die vermeintliche „kognitive Dissonanz“ ist lediglich eine Reproduktion einer politischen Schizophrenie. Frei nach Rosa von Praunheim ist nicht die Verbraucher*in pervers, sondern die Gesellschaft, in der sie lebt. Solange es also für die einzelnen rational ist, das gesellschaftlich Falsche zu tun, werden moralische Appelle gar nix bewirken.

Immunisieren statt Diskutieren

Nach der Devise „Wenn schon verbohrt, dann richtig“ haben sich offenbar die Autoideologen die Immunisierung gegen jede Kritik („Das wird man ja noch sagen dürfen“, „Meinungsdiktatur“) von AfD und anderen Rechtspopulisten abgeschaut. Die „Premiumhersteller“, schreibt die SZ (mit Kotau vor dem Geltungskonsum), „gehen in die Vorwärtsverteidigung. ‚Die hämische SUV-Debatte ist Panikmache, die nichts mit der Realität zu tun hat“, sagt der BMW-Chef: „In solchen Wagen säßen ‚ganz normale Leute‘ die damit zum Beispiel ihre Kinder sicher zum Sport bringen wollten. Und die wolle er auch nicht umerziehen: ‚Wahlfreiheit ist das Grundprinzip einer Marktwirtschaft‘.“ Kritik am klimaschädlichen Verkaufsprinzip wäre demnach also per se ideologisch und ein Angriff gegen die „Wahlfreiheit“. An solchen Beispielen sieht man, dass der Kampf gegen den Klima- und für einen Kulturwandel erst begonnen hat, aber bereits mit härtesten Bandagen geführt wird. Eine der üblen Maschen, mit denen eine offene, eine politische Debatte verhindert werden soll, ist die Entpolitisierung: Individualisieren von gesellschaftlichen Konflikten, Moralisieren und Immunisieren.

Es gibt derzeit eine unglaubliche Vielzahl von bayerischen Dörfern, in denen grüne Ortsverbände gegründet und Listen mit herausragenden Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt werden. Daran ist – auch ohne grüne Parteibrille betrachtet – einiges so bemerkenswert wie aufregend: Es sind kleine und kleinste Orte, in denen man auch als grüner Optimist nicht wirklich erwartet hätte, dass dort so viel grünes Leben, ja dass überhaupt grünes Leben entstehen und aufblühen kann. In Orten wie Mammendorf oder Alling haben wir als Landtagsabgeordnete und Kreispolitikerinnen und -politiker über etliche Jahrzehnte immer wieder in froher Erwartung Anläufe gestartet und Veranstaltungen durchgeführt und wurden mit unschöner Regelmäßigkeit ernüchtert. Andere Orte, die man gar nicht auf dem Schirm hatte, wie Althegnenberg oder Pfaffenhofen an der Glonn, überraschen mit höchst kompetent und paritätisch besetzten Listen.

Weil wir hier leben

Mindestens so überraschend wie erfreulich nicht nur aus grüner Perspektive ist die unglaubliche Politikbegeisterung, die sich in diesen kleinen Dörfern breit macht, und zwar in allen Regionen Bayerns. Nicht nur im weiteren Einzugsgebiet der Hauptstadt, sondern in der Oberpfalz genauso wie in Schwaben oder Franken rührt sich gerade auf dem Land allerhand. Unter den Kandidatinnen und Kandidaten finden sich viele, die sich gerade jetzt dafür entschieden haben, politisch aktiv zu werden, weil es höchste Zeit zum Handeln ist. Auffällig ist außerdem, wie viele Hochqualifizierte sich in diesen Dörfern finden, und zwar frisch Zugezogene genauso wie wieder Heimgekehrte. Unser Land ändert sich, es urbanisiert sich im positiven Sinne. Die Bevölkerung ist weitgereist, welterfahren und weltoffen und gerade auch deshalb heimatverbunden: „Weil wir hier leben“, aber was von der Welt gesehen haben, wissen wir, was wir schützen und was wir anders machen müssen, damit unser Land und unser Planet lebenswerte Plätze bleiben.

Land der Vielfalt

Besonders bemerkenswert ist schließlich, dass die neuen grünen Listen die bisher dort vorherrschende Gemeindepolitik im eigentlichen Sinne politisieren. Denn sie beenden einen Zustand, in dem es keine parteipolitische Wahl und keine wirkliche politische Alternative gab. Es blieb meist nur die Wahl zwischen Personen, Ortsteil- oder Interessensvertretern wie Grundbesitzern, Bauern oder Handwerkern. Frauen sind ohnehin nur ausnahmsweise vertreten. In vielen dieser Orte hat sich bei den letzten Bürgermeisterwahlen kein Gegenkandidat zum Amtsinhaber gefunden. Deshalb will ein CSU-Bürgermeister jetzt wissen, ob die Grünen auch einen Kandidaten aufstellen. Weil er dann auf der CSU-Liste kandidiert. Sonst lässt er sich „überparteilich“ aufstellen. Und er warnt die Grünen: „Keine Tricksereien“. Denn da kennt er sich aus. Etwa mit der „parteifreien“ Kandidatur eines CSU-Bürgermeisters. „Überparteilich“ heißt halt: innerhalb der innerparteilichen Bandbreite der CSU. Das war bisher breit genug.

Ab jetzt wird’s politisch

In all diesen Orten schauen die amtierenden Bürgermeister oder Kandidaten nun persönlich nach, was da passiert. Als könnten sie’s nicht glauben. In dem Moment, in dem die Gründung eines grünen Ortsverbandes ansteht oder eine Aufstellungsversammlung, bekunden alle, wie sehr sie sich persönlich schon bisher für Klima- und Naturschutz eingesetzt haben. Auf einmal werden grüne Themen wichtig. Damit haben die Grünen in ihrer Kommune schon Wirkung erzielt, bevor sie überhaupt kandidieren. Das gilt erst recht für das politische Klima und die lokale Demokratie. Denn in all diesen Orten fallen die meisten Entscheidungen im Gemeinderat, egal zu welchem Thema, einstimmig und ohne jede öffentliche Diskussion. Mann hat vorher ausgekartet, was nachher als Entscheidung öffentlich und stumm nachvollzogen wird. Wenn politische Entscheidungsprozesse aber nicht transparent und nachvollziehbar ablaufen, ist nicht mal ein Minimum an Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet.

Zuwachs an demokratischem Reichtum

Wenn es bisher einen Streit gab, wurde er persönlich, nicht politisch. Wenn Grüne als politische Gruppierung mit klarer Botschaft und Zielsetzung in diese Gemeinderäte einziehen, wird es offene politische, also demokratische Auseinandersetzungen geben. Der südamerikanische Schriftsteller und Diktatoren-Freund Louis Borges nannte mal, wie man eben in der SZ lesen konnte, die Demokratie einen „Missbrauch der Statistik“. Da hat er einen wunden Punkt getroffen, denn wenn bloß Stimmen gezählt werden und sonst nichts weiter an Mitbestimmung passiert, ist Demokratie eine leere Hülse. So erklärte ein CSU-Fraktionschef neulich am Stammtisch: „Wenn von Euch wer in den Gemeinderat kommt, gibt es nur Probleme. Dann sind keine Mehrheiten mehr möglich.“ Er möchte da kein Bürgermeister sein. Halb so wild. Dann macht‘s halt eine Grüne oder ein Grüner. Es gibt ja jetzt Alternativen. Reichtum bemisst sich nach den Möglichkeiten, die einem offenstehen, Freiheit danach, ob man die Wahl hat. In Bayern mehrt sich gerade der demokratische Reichtum.

Ein Nazi ist ein Nazi ist ein Nazi. Das muss man doch sagen dürfen. Dass ein Nazi ein Nazi ist. Wenn er einer ist. Wenn er aber keiner ist, weil sein Weltbild weder komplett rechtsextrem noch verfestigt ist, wird er sich zu Unrecht beschuldigt und beschimpft fühlen. Er wird nur damit beschäftigt sein, sich gegen den Vorwurf zu wehren, statt sein Verhalten zu ändern. Statt seine Äußerungen und seine Weltanschauung zu überprüfen, wird er vielleicht Rassismus verharmlosen und Rassisten rechtfertigen. Die „Nazi-Keule“ wurde schon so oft von allen möglichen Leuten und selbst von Rechtspopulisten rausgeholt, dass sie gar nichts mehr trifft, geschweige denn auf den Begriff bringt. „Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“, spottet Goethe im „Faust“. Auch der gern als Pauschalverdammung gebrauchte Begriff „Faschismus“ erklärt weniger als er verschleiert, weil er nicht auf den Punkt bringt, was den Rechtspopulismus heute so gefährlich macht.

Logik der Grabenkämpfe

Dabei haben wir mit Pauschal-Vorwürfen und Totschlag-Argumenten reichlich Erfahrung. In meiner Jugend waren selbst Begriffe wie Demokratie und Rechtsstaat für viele, die überall auf Nazi-Erbe und NS-Kontinuitäten stießen, verlogene Kampfbegriffe, die das Gegenteil von dem bedeuteten, was sie beanspruchten. Recht und Demokratie galten nur sehr eingeschränkt. Mit Blick auf „Notstandsgesetze“ und Kumpanei mit allen Diktatoren dieser Welt wurde recht leichtfertig von „Faschismus“ gesprochen. Ohne jede eigene Erfahrung von Willkür, Terror oder Folter haben wir alle politischen Systeme, die nicht unseren moralischen Ansprüchen genügten, über einen Kamm geschert. Das lag nicht zuletzt daran, dass umgekehrt wir, wenn wir nur ein bisschen Kritik am Kapitalismus und am „System“ äußerten, umstandslos als „Kommunisten“ verdammt wurden. Deshalb fiel es uns schwer, Verbrechen, die im Namen des „realen Sozialismus“ begangen wurden, wahr- und ernstzunehmen. Wir sahen uns gezwungen, alle Kommunisten dieser Welt zu verteidigen, wenn wir uns selbst verteidigen wollten.

Ein Schlagwort, das weh tun soll

Grabenkämpfe vertiefen Gräben. Warum können viele trotzdem nicht auf das Etikettieren und Beschimpfen von „Nazis“ verzichten? Sie bestehen auf dem Abstempeln und Einsortieren in die rechtsextreme Schublade, als ob sie damit rechtspopulistische Umtriebe aus der Welt schaffen oder wenigstens in den Griff bekommen könnten. Aber wenn immer alles gleich „Faschismus“ ist, geht es offenbar nicht ums Begreifen. Dann geht es um ein Schlagwort. Wenn man schon nichts ändern kann, will man wenigstens wehtun, zumindest mit Worten. Ein Zeichen von Ohnmacht, von hilfloser Wut. Ich habe die Wut auf Demos gegen Aufmärsche von Neonazis ja auch jedes Mal gefühlt selber. Deren martialisches Auftreten und spürbarer, gegen unsereinen gerichtete Vernichtungswille können einen nicht kalt lassen. Sie fordern einen auch körperlich heraus, sich zur Wehr zu setzen. Diese Wut will man auch rausschreien. Aber  dennoch habe ich den Slogan „Nazis raus!“ nie verstanden. Wo sollen die denn hin? Eine ethische Säuberung kann keine adäquate Antwort auf die Drohung ethnischer Säuberung sein.

Kritisieren, nicht moralisieren

Vielleicht soll die Benennung helfen, das Phänomen wenigstens verbal in Griff zu kriegen, also gleichsam magisch zu bannen. Aber das funktioniert allenfalls als Abgrenzung. „Nazis“, das sind die anderen. Aber darin steckt eine Selbstüberhöhung, die unsere demokratischen Werte unterminiert: „Durch moralisches Urteilen verlassen wir die Welt unserer Werte, um anderen Menschen eine Schuldzuweisung, Beleidigung oder Etikettierung überzustülpen. Wir unterstellen jemandem, ‚nicht richtig’ zu sein, weil er nicht unseren Wünschen entsprechend handelt“, sagte Michael Reder, Professor für Völkerverständigung: https://www.sueddeutsche.de/politik/auseinandersetzung-mit-pegida-wir-brauchen-mehr-streit-1.2297685. Es komme zur Frontenbildung: „Konflikte eskalieren, weil die Positionen beider Seiten verhärten“, etwa durch „ausgrenzendes Abkanzeln“. Das bedeutet aber nicht, menschenverachtende, rassistische Äußerungen oder undemokratisches Verhalten zu akzeptieren. Solches Verhalten lässt sich jederzeit auf Augenhöhe kritisieren. Dazu muss es nicht von einem „Nazi“ stammen. Verhalten lässt sich ändern.

Beim „Landtagsstammtisch“ – https://www.facebook.com/events/430869234232639/ – rede ich am 16. Oktober um 21 Uhr mit der Philosophin Roberta Astolfi über den Rechtspopulismus in Italien und darüber, ob wir aus den dortigen Erfahrungen etwas lernen können.

Wir werden ja immer ermahnt, „sachlich zu bleiben“. Aber im Leben und in der Politik sind Gefühle so unvermeidlich wie unverzichtbar. Beides macht oft Ärger, soll aber auch Freude machen. Ob Gefühle in der Politik eine Chance oder eine Gefahr darstellen, hängt genauso wie im richtigen Leben davon ab, wie man mit ihnen umgeht. Am wichtigsten aber ist, wie man mit anderen Menschen umgeht. Basis jeden demokratischen Zusammenlebens und jeder vernünftigen Diskussion ist die grundsätzliche Akzeptanz des Existenzrechts des Anderen. Und das heißt vor allem: dessen Anderssein. So wie man den Anderen ernst nehmen muss, seine Interessen, Perspektiven und Argumente, so muss man auch seine Gefühle ernst nehmen. Und es hilft, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen.

Gefühle geben Fingerzeige

Gefühle sind Hinweise. Sie können genau wie Argumente Tatbestände erhellen oder verdunkeln. Sie sind deshalb genauso kritisierbar und diskutierbar. Meist müssen wir uns erst um Gefühle und Interessen kümmern, um unsere eigenen wie die der anderen, bevor wir erfolgversprechend über Argumente reden können. Nur wenn wir herausbekommen wollen, worum es anderen geht, gibt es – beiderseits – eine produktive Öffnung: es kommt zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, bei der man anderen zuhört, ihre Argumente versucht zu verstehen und miteinander zu einem Ergebnis zu kommen. Wer politisch handeln will, muss Antworten geben auf die jeweiligen Emotionen. Statt vorhandene Ängste zu schüren, kann man Zuversicht geben und Hoffnung machen, vor allem aber: konkrete Wege aus der Krise aufzeigen.

Gefühle erst nehmen

Das bedeutet aber nicht, dass wir alle noch so absurden Folgen und Antworten akzeptieren. Gefühle ernst nehmen heißt nicht, die darauf folgenden Reaktionen zu rechtfertigen. Rassismus, Hass und Hetze sind nicht zu rechtfertigen. Da müssen wir klar sagen: So geht’s nicht. Aber im gleichen Moment müssen wir immer auch sagen, wie’s geht. Bestes Beispiel dafür ist für mich das Thema Heimat. Ich habe früh gemerkt, dass ich diese Gefühle teile, aber nicht alle möglichen Versuche, sie zu befriedigen. Ausgrenzung oder Überlegenheitspropaganda sind für mich nicht akzeptabel. Aber ich hab das Thema Heimat früh politisch auch deshalb aufgegriffen, weil ich gemerkt habe: technische Lösungen allein versprechen politisch keinen Erfolg. Wir müssen emotionale Antworten auf Probleme und Fragen der Menschen geben. Nicht nur Argumente, sondern auch Gefühle entscheiden darüber, ob wir beispielsweise die Welt retten und wenigstens gerechter machen können.

Veränderungen brauchen Gefühle

Wer sich Politik ohne Gefühle vorstellt, verkennt den existentiellen Charakter von Politik. Gefühle spielen eine zentrale Rolle dabei, ob unsere Demokratie funktioniert, sich Menschen ernstgenommen und in diesem Land daheim fühlen. Emotionen führen zu Handlungsimpulsen. Rational sehe ich vieles, was man machen könnte. Aber dank meiner Emotionen handle ich. Emotionen sind psychische Zustände, mit denen wir auf äußere Zustände reagieren. Sie sind Orientierungshilfen für uns und andere. Sie führen zu Handlungsimpulsen, aktivierend oder lähmend. Wer politisch etwas verändern will, muss sich außer um inhaltliche Fragen auch um politische Botschaften und um das Lebensgefühl der Menschen kümmern.

Salon Zukunft Heimat 12. Mai 11 Uhr

Am Sonntag, den 12. Mai, diskutiere ich mit der Philosophin Roberta Astolfi und dem Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin unter der Moderation von Norbert Göttler, Historiker und Bezirksheimatpfleger von Oberbayern, über „Gefühle in der Politik. Chance oder Gefahr?“

https://www.bezirk-oberbayern.de/Footernavigation/Termine/Veranstaltungen/Salon-Zukunft-Heimat-Gef%C3%BChle-in-der-Politik-Chance-oder-Gefahr-.php?object=tx,2378.32.1&ModID=11&FID=2966.49.1&NavID=2378.15&La=1

Vermutlich wurde noch nie so viel geredet wie heute. Allenfalls höfische Zirkel könnten da noch mithalten, zu Zeiten als Wortgefechte Taten ersetzen mussten und Bonmots noch töten konnten. Aber das heißt nicht unbedingt, dass bei uns genug miteinander geredet wird. Formate wie Talkshows, Twitter oder Facebook begünstigen eher den Schlagabtausch als den Austausch von Argumenten und Abgleich von Standpunkten. Und wenn es einem zu viel wird, wechselt man halt schnell das Format. Wer regelmäßig ins Vereinsheim oder zum Wirt geht, kann das nicht so einfach. Zwar treffen sich am Stammtisch auch nur „die, die immer da sitzen“. Doch es sind in der Regel höchst unterschiedliche Personen, die sich im öffentlichen oder halböffentlichen Raum begegnen und auseinandersetzen. Da sind Konfrontationen unausweichlich, mit anderen Meinungen oder Menschen, denen wir uns nicht ohnehin zugehörig fühlen. Logisch, dass da auch mal unversöhnliche Positionen aufeinanderprallen. Damit muss man dann zurechtkommen.

Die Luft wird dünn über den Stammtischen

Stammtische sind in Bayern vorpolitischer Raum und damit politisch umkämpftes Gelände. Insbesondere die CSU erhebt den Anspruch auf „die Lufthoheit über den Stammtischen“. In seiner Studie über „Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung“ von 2004 hat Andreas Kießling herausgearbeitet, wie sehr schon Stoiber populistische Kampagnen nur zu diesem Zweck betrieben hat. Aber heute orientiere sich die CSU um, erklärt Peter Müller in seiner Analyse von 2016, „Der Machtkampf. Seehofer und die Zukunft der CSU“: „Die Bindekraft des Stammtisches schwindet“. Die CSU setze deswegen inzwischen „für das Gespräch mit dem Bürger“ auf Social Media, denn, so Partei-Geschäftsführer Strepp: „Immer weniger Leute gehen nach der Kirche zum Stammtisch. Strepp zitiert den Werbespruch eines amerikanischen Fernsehanbieters: Gebt es den Leuten, wann, wo und wie sie es wollen.“ Natürlich kann man mit den Menschen nur da reden, wo sie sich auch aufhalten. Aber Kommentare, Posts und Likes sind bestimmt kein vollwertiger Ersatz für ein tatsächliches Gespräch und echte Debatten.

Ende der Selbstverständlichkeiten

Die Bindekraft des Stammtisches ist ja nicht das einzige, das schwindet. Der Zerfall der bayerischen Parteienlandschaft lässt sich auch als europäische Normalisierung und als nachgeholte Modernisierung begreifen: Auch unsere scheinbar so geschlossene Gesellschaft hat sich längst ausdifferenziert; bislang gleichsam „naturwüchsige“ Selbstdefinitionen oder Zugehörigkeiten wie „Nation“, „Klasse“ oder „Schicht“, „Geschlecht“ und „Familie“ haben jede Selbstverständlichkeit verloren, und damit schwächen sich auch bisher scheinbar automatische parteienspezifische Bindungen ab. Identitäten und Gemeinsamkeiten müssen heute gezielt hergestellt werden, von den jeweils einzelnen, von Gruppen oder auch Parteien. Solche offenen Diskussions- und Selbstdefinitionsprozesse können allerdings nur gelingen, wenn alle Teilnehmer die jeweilige Unterschiedlichkeit und die Form demokratischer Selbstorganisation als unstrittig akzeptieren. Andreas Dörner nennt das „die elementare Diversität von Interessen in pluralen Demokratien“: https://seppsblog.net/2017/02/10/wehret-den-anfaengen-gesellschaftlicher-spaltung/. Darauf müssen wir uns einstellen: dass andere anders sind und nicht automatisch das gleiche denken und wollen wie wir. Wenn wir Gemeinsamkeiten wollen, müssen wir sie herstellen.

Diskussions- und Definitionsprozesse organisieren

Dafür haben wir noch viel zu wenig Verfahren, aber auch zu wenig Erfahrung, um Konflikte unterschiedlicher Interessen zu managen und diese in einem fairen Ausgleich unter einen Hut zu bringen. Aber nur wenn uns das gelingt, erfahren wir uns nicht lediglich als bloß widersprüchlich gegeneinander, sondern als zusammen an einem Projekt Arbeitende. Dafür brauchen wir Gelegenheiten und Orte, an denen wir miteinander ins Gespräch kommen und uns dadurch als zugehörig oder wenigstens einander zugewandt erleben. Ein solcher Ort war und ist der Stammtisch. Den Platz am Stammtisch hat man sich nicht erkauft durch Gleich-zu-gleich-Geselligkeit, Likes, Freundschaftsanfragen oder Wohlverhalten. Am Stammtisch sitzt man, weil man da hingehört, als Teil der Dorfgemeinschaft, als Mitglied des Sportvereins oder welcher Gruppe auch immer. Weil kein vereinheitlichendes Auswahlverfahren stattfindet, muss man mit unterschiedlichen Sichtweisen zurande kommen. Vor allem aber muss man selbst bei einem Streit so auseinandergehen, dass man sich beim nächsten Stammtisch wieder begegnen und friedlich an einem Tisch sitzen kann.

Landtagsstammtisch auf Radio Lora: 20. Februar 21 Uhr

Am 20. Februar treffen wir uns zum ersten Mal zum Landtagsstammtisch: von 21 bis 22 Uhr auf Radio Lora 92,4 – http://lora924.de/?page_id=7853. Was läuft im Landtag? Darüber spreche ich jeden 3. Mittwoch im Monat mit Menschen, die im Maximilianeum arbeiten. Gast im Studio ist diesmal die Filmemacherin und neu gewählte Münchner Abgeordnete Sanne Kurz. Ruft an und redet mit! Unter 089 – 48952305 landet Ihr bei mir im Studio 1.

Klima- und Umweltschutz haben es in Deutschland nicht leicht. Da können wir Grünen noch so oft erzählen, dass sie auf Dauer auch ökonomisch unverzichtbar sind. Dafür gibt es allenfalls Zustimmung in schönen Sonntagsreden, aber wenn ökologische Politik konkret werden will, wird bis heute eine Vielzahl ökonomischer oder juristischer Einwände aufgefahren, die jedes Vorhaben erst einmal verzögern oder ganz verhindern. Wie kann es sein, dass sich kurzsichtige wirtschaftliche Interessen so häufig in der Politik durchsetzen? Alle wissen beispielsweise, dass in Deutschland keine Kohle mehr verheizt werden darf, wenn wir einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz leisten wollen. Trotzdem soll der Hambacher Wald mit Hilfe eines erheblichen Polizeiaufgebotes gerodet werden. Beispiele für solche Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln gibt es viele, von Glyphosat bis Dieselskandal. Die simpelste Erklärung ist dann häufig, dass Geld geflossen sei, durch Bestechung oder Parteispenden. Auch das kommt natürlich vor.

Politische Landschaftspflege

„Pflege der politischen Landschaft“ – https://de.wikipedia.org/wiki/Flick-Aff%C3%A4re – betreiben Wirtschaftsgrößen wie Flick offenbar bis heute: http://www.spiegel.de/plus/august-von-finck-und-die-rechten-der-milliardaer-hinter-der-afd-a-00000000-0002-0001-0000-000160960453. Das gibt es im großen Stil und auch im Kleinen. So hat beispielsweise ein Laborunternehmer – https://uaschottdorf.wordpress.com/2014/07/01/justizsystemfehler-fall-schottdorf/ – Stoiber im Wahlkampf 2005 eine Spende von 20.000 € zukommen lassen: „Anliegend übersende ich Ihnen einen Spendenscheck für die CSU in der Hoffnung, dass er mithilft den angestrebten Erfolg zu erreichen und dass jetzt endlich eine Änderung in Deutschland erreicht werden kann.“ Deshalb macht es durchaus Sinn, „den Einfluss des großen Geldes auf die Politik insgesamt zurückzudrängen“ – https://www.lobbycontrol.de/2018/11/die-schatten-finanzen-der-afd-fragen-und-antworten/. Aber Bestrebungen, „Wahlbeeinflussung durch anonyme Großspenden und Querfinanzierungen künftig zu verhindern“, reichen bei weitem nicht aus. „Wirtschaftsfreunde“ in vielen Parteien müssen nicht bestochen werden.

Keine Kapitulation vor Komplexität

Die machen Politik im Sinne jeder Lobby umsonst und freiwillig. Weil „wir alle im selben Boot sitzen“. Wenn die Kanzlerin „in der Finanzkrise auf die falschen Ratgeber aus Banken“ setzt – https://www.aargauerzeitung.ch/wirtschaft/wie-banker-ackermann-einst-kanzlerin-merkel-einseifte-131311787 – oder Ministerien Gesetzentwürfe von Lobbyisten schreiben lassen, dann weil sie dort die ökonomische Expertise vermuten, die sie bei sich vermissen. Bei uns gilt ein Politiker oder eine Partei ja schon als „Wirtschaftsexperte“, wenn er oder sie bereit sind, Kapitaleignern das schnelle Geldverdienen leicht zu machen – auch wenn sie von ökonomischen Vorgängen keinen blanken Schimmer haben. Es ist nur vernünftig, sich von Experten beraten zu lassen. Aber zum einen gibt es keinen Grund, nur auf eine Perspektive zu setzen, zum anderen muss niemand auf seine Urteilskraft verzichten. So wie die CSU-Größen in der Landesbank, die erst dann wissen wollten, welche Art von Produkten die BayernLB mit ihrer Einwilligung gekauft hatte, als es zu spät war: http://www.sepp-duerr.de/finanzmarktkrise-und-bayernlb-wie-weiter-in-der-krise/. Für mich im Untersuchungsausschuss war immer klar: Ich muss kein Finanzexperte sein, um nachzuweisen, dass die Verantwortlichen keine Ahnung hatten und deshalb unverantwortlich handelten.

Lob des Widerspruchs

Kaum jemand macht etwas, das er falsch findet, gern oder erfolgreich, nur weil er dafür bezahlt wird. Auch Politikerinnen und Politiker handeln am liebsten in der Überzeugung, das Richtige zu tun oder wenigstens das am wenigsten Falsche. Aber selbst wer über einen ausgeprägten eigenen Werte-Kompass verfügt, kann leicht unter großen Konsens- und Konformitätsdruck geraten: durch die öffentliche und die veröffentlichte Meinung, Experten- oder Peer-Gruppen, Klientel- oder parteinahe Interessens- oder Wählergruppen. Je weiter die Entfernung zu dem, was wichtige Gruppen als richtig ansehen, desto schwerer wird es, Kurs zu halten. Und umso stärker wird die Angst vor dem Falschfahrer-Syndrom („Was, im Radio sagen sie, einer fährt falsch? Das sind doch viele!“). Um vom „Common sense“ abzuweichen, dem was „man“ für richtig und vernünftig hält und als „gesunder Menschenverstand“ gilt, braucht es nicht nur allerbeste Argumente, sondern Standfestigkeit und vor allem die Überzeugung, dass abweichende Meinungen nicht von vornherein abwegig oder gar überflüssig sein müssen. Wer eine abweichende Meinung vorträgt, muss ja nicht unbedingt Recht haben, um die Debatte und den allgemeinen Erkenntnisfortschritt voranzubringen. Manchmal ist es schon verdienstvoll, scheinbar naheliegende Antworten in Frage zu stellen.

Zurzeit zieht sich in vielen Staaten ein tiefer politischer Graben durch die Bevölkerung: https://seppsblog.net/2017/02/10/wehret-den-anfaengen-gesellschaftlicher-spaltung/. Wer nach Ursachen sucht, landet meist relativ schnell bei den ökonomischen Verhältnissen. Denn auch da finden wir eine krisenhafte Zuspitzung der Lage: Seit Jahrzehnten wächst die soziale Spaltung bei uns und weltweit. Die ganz Reichen häufen wieder gigantische Vermögen an, wie schon vor dem Ersten Weltkrieg. Das oberste Prozent besitzt in den USA ein Drittel, bei uns ein Viertel des gesamten Vermögens; die Hälfte der Bevölkerung bei uns wie überall hat dagegen praktisch nichts. Seit gut einem Jahrzehnt, seit der Finanzkrise, herrscht global eine große ökonomische Verunsicherung. Dazu kommt die drohende Klimakatastrophe. Alle wissen daher, dass wir so nicht mehr weiter wirtschaften, so sorglos wie bisher konsumieren und aus dem Übervollen schöpfen können. Denn das funktionierte nur zu Lasten unserer Kinder und Kindeskinder und auf Basis großer globaler Ungerechtigkeiten. Aber diese beunruhigende ökonomische und soziale Lage führt nicht automatisch in den Rechtsnationalismus. Trump hat nun wirklich keine ökonomischen Probleme, Spanien dagegen hat keine rechtsnationalistische Partei.

It’s not only the economy, stupid

Wenn es allein um die Lösung ökonomischer Probleme ginge, also etwa um die Frage, wie wir künftig wirtschaften müssen, um nicht weiter auf die ökonomische wie die Klimakatastrophe hinzuarbeiten, wäre es ja nur logisch, wenn sich all die aufgeregten Debatten ihr widmen würden. Es muss also mehr dazukommen, damit Menschen die rechtsnationalistische Antwort wählen. Dazu muss man die Frage nach den ökonomischen Problemen bereits perspektivisch verengt stellen. Dass der Wohlstand ungerecht verteilt ist, bei uns wie global, ist nichts Neues. Aber die Krisen entfachen die Verteilungskämpfe neu. Und neu ist auch, dass die Erklärungen und Begründungen dafür, warum das bisher so extrem ungerecht sein musste, nicht mehr überzeugen – uns schon nicht, aber erst recht nicht die nicht Privilegierten. Es geht also nicht bloß um gefährdeten Wohlstand, sondern um Verlustabwehr und um die Suche nach neuen, überzeugenden Legitimationen. Vor allem aber weiß scheinbar niemand einen vernünftigen Ausweg, also brauchbare Alternativen. Den bisherigen Wohlstand zu sichern, scheint vielen nur möglich, wenn sie die eigenen, in Frage gestellten Privilegien bedingungslos verteidigen. Dafür scheint es ihnen auch erforderlich, andere moralisch abzuwerten, um die eigene ökonomische und soziale Privilegierung vor sich selber rechtfertigen zu können.

Gerechtigkeit ist überschätzt

Deshalb können die schwierigen grundlegenden ökonomischen und sozialen Fragen von Rechtsnationalisten in simple ethnische und kulturelle Schwarz-Weiß-Raster „übersetzt“ werden. Im vermeintlichen Überlebens- und deshalb gnadenlosen Abwehrkampf zählen keine hehren Prinzipien, keine Menschenrechte, keine Gerechtigkeitsfragen. Auf viele oder gar alle Menschen anwendbare, verallgemeinerbare Prinzipien, Kriterien und Regeln dürfen nicht zählen, wenn „Bayern first“ (so der CSU-Stratege Wilfried Scharnagl 2012: http://www.stern.de/politik/deutschland/buchvorstellung–bayern-kann-es-auch-allein–mit-scharnagl-ins-gelobte-land-3590160.html), „America first“ oder schlicht und einfach „Ich, ich, ich!“ gelten soll. Dazu hat der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller neulich –http://www.sueddeutsche.de/politik/essay-koennen-populisten-ueberhaupt-regieren-1.3375266?reduced=true – erklärt: „Populisten behaupten stets, sie und nur sie verträten das Volk … Alle Mitwettbewerber um die Macht gelten für Populisten als illegitim. Hier geht es nie um Streit in Sachfragen, was in der Demokratie bekanntlich völlig normal ist. Stattdessen zögern Populisten nicht, sofort zu moralisieren und zu personalisieren“. Denn eine sachliche Diskussion würde eigene egozentrische Sache schwächen.

Meine Wahrheit gehört mir

Das Kabarettduo Maschek formuliert das lustiger: „Meine Wahrheit ist richtiger als eure. Selbst ganz ohne Beweise.“ Da wird nicht nur die Existenz anderer Perspektiven negiert, sondern auch deren Berechtigung. Durch bloßes Behaupten behauptet man sich. Deshalb müssen Dialog und Diskurs glatt verweigert werden: vor allem denen gegenüber, die unter Berufung auf Aufklärung und Menschenrechte auf Gleichberechtigung und dem Abbau von Privilegien bestehen. „Alternative Fakten“ sind nicht einfach Lügen. Sie leugnen keine Wahrheit, sondern ignorieren die Frage von wahr oder falsch, begründet oder unbegründet. Die heutigen Rechtsnationalisten lassen kritisches Hinterfragen und Begründungsforderungen der Aufklärung ins Leere laufen: Sie verweigern sich dem demokratischen Diskurs, weil sie die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Interessen und Perspektiven nicht anerkennen, sondern für sich und die Ihren eine Art uneingeschränktem, unhinterfragbarem Geburtsrecht in Anspruch nehmen. Sie und ihre Interessen sind sakrosankt von Gottes oder Volkes Gnaden. Deshalb ist umgekehrt die Bereitschaft und Fähigkeit zur Debatte die Nagelprobe einer demokratischen Kultur.

Im Gespräch bleiben

Es geht also darum, mit allen, die das selber wollen oder wenigstens zulassen, im Gespräch zu bleiben, sich der Debatte zu stellen, den Austausch und das Abwägen von Argumenten einzufordern. Das darf uns aber gleichzeitig nicht davon abhalten, rechtsnationalistische Ungleichwertigkeitsvorstellungen als so absurd zu brandmarken, wie sie das sind – gegebenenfalls auch, indem wir sie der Lächerlichkeit Preis geben. Rücksichtslose Versuche, die eigenen egoistischen Interessen durchzusetzen, gilt es, in Schranken zu weisen, indem wir auf der Einhaltung demokratischer Regeln, auf Rechtsstaat und – nicht zuletzt – auf Unversehrtheit bestehen. Gerade auf uns Grüne aber wartet die uns sozusagen auf den Leib geschriebene Aufgabe: neue, für alle Menschen gleichermaßen erreichbare, attraktive Wohlstandsmodelle zu entwickeln und zu erproben. „Wer seine Heimat liebt, der spaltet sie nicht“: Nicht zuletzt dank dieser Devise ist Sascha Van der Bellen österreichischer Bundespräsident geworden. Auch wir müssen für Zusammengehörigkeit statt Spaltung eintreten und allen zeigen: wir gehören zusammen, wir kümmern uns umeinander und stehen füreinander ein.

Tief gespaltene Länder wie die USA, Polen oder Ungarn sind Warnung genug. Außerdem sind Rechtsnationalisten wie Trump, Bannon und seine europäischen Konsorten ja nicht die ersten, die mit der Dynamik gesellschaftlicher Spaltungen ihren eigenen Karrieren Schwung verleihen. Deshalb wissen wir alle nur zu gut, dass sich solche Bewegungen spiralförmig beschleunigen und ganz schnell blutig und in der Katastrophe enden können. Mehr denn je gilt folglich: „Wehret den Anfängen!“ Aber anders als früher, als es noch klare Fronten zu geben schien, genügt es nicht, nur das vermeintlich „Böse“ zu markieren, zu benennen und so quasi magisch zu bannen und auszugrenzen. Heute kommt es darauf an, sich frühzeitig ins Getriebe der gesellschaftlichen Abwärtsspirale einzuspreizen und alles zu vermeiden, woraus sie ihren Antrieb ziehen könnte. Das bedeutet, dass nicht nur „die anderen“, also unsere Gegner, aufgefordert sind, „abzurüsten“, sondern auch wir selber alles unterlassen müssen, was gesellschaftliche Spaltungen verhärtet und den öffentlichen Raum mit wechselseitigem Hass auflädt.

„Alternativlosigkeit“ gebiert „Alternativen“

Politik heißt, man muss leider immer wieder daran erinnern: Es gibt Alternativen. Wir haben die Wahl. Wir können was ändern. Das ist für mich der besondere Reiz an Politik. Bis heute aber glauben viele, oder sie tun wenigstens so, als gäbe es „keine Alternative“. Die unsägliche Margaret Thatcher hat schon in den 80er Jahren die Parole ausgegeben: „There is no alternative“. Und auch Schröder und Merkel haben immer wieder behauptet, ihre Politik sei „alternativlos“, egal ob es um Finanzkrise, Bankenrettung, Sozialabbau oder Niedriglöhne ging. Damit wollten sie nicht nur jede Diskussion darüber abwürgen, ob etwas getan werden musste, sondern mehr noch: wie es getan werden konnte. Früher hab ich immer kritisiert, dass das Leugnen möglicher Alternativen den Abschied von der Politik bedeutet. Heute, in Zeiten von Brexit, Trump und AfD, zeigt sich, dass die angebliche Alternativlosigkeit nur zum Ende vernünftiger Politik führt. Denn wer keine echten Wahlmöglichkeiten bietet und erörtert, bereitet für so abwegigen Pseudoalternativen wie die „Alternative“ für Deutschland, „altright“ oder „alternative Fakten“ den Boden. Diese rechtsnationalen „Alternativen“ glauben ihrerseits ebenfalls, dass es nur eine echte Alternative gibt.

„Alternative“ hält sich für alternativlos

Sie hängen der absurden Vorstellung an, es gebe so was wie den einen „wahren Volkswillen“, den man nur entdecken müsse. Alle Populisten, von Trump bis Seehofer, arbeiten mit dieser Fiktion. Da wird unter den Tisch gekehrt, wie unterschiedlich wir sind und wie schwierig es ist, zu einem Gemeinwohl zu finden, das allen gerecht wird. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der vor den Nazis nach Amerika fliehen musste, hat später immer wieder für eine demokratische Streitkultur geworben. Er hat die Illusion von einem einheitlichen Volkswillen als Überbleibsel aus der Nazizeit kritisiert. Eine pluralistische Demokratie wie die unsere zeichne nämlich aus, dass es „einen Bereich des Gemeinschaftslebens gibt, in dem ein Konsens aller nicht besteht, ja nicht einmal bestehen soll: der Bereich der Politik.“ Politischer Streit ist also was Notwendiges und Positives, wenn er nach demokratischen Regeln geführt wird und auf Gemeinsamkeit zielt: https://seppsblog.net/2016/07/07/einigkeit-und-recht-und-streitlust/. Denn unsere gesellschaftliche Entwicklung wird von zwei Trends bestimmt, die wir nur bewältigen können, wenn wir uns nicht vom leeren Versprechen einfacher Lösungen verführen lassen.

Unübersichtlichkeit, Vielfalt und der Hang zur Vereinfachung

Da ist zum einen die Vielfalt, also der gesellschaftliche Pluralismus. Zum anderen aber werden die Aufgaben, vor denen wir in Politik und Gesellschaft stehen, immer komplexer. Auch deshalb können wir sie nicht mehr allein bewältigen. Das gilt für Nationalstaaten, aber es gilt auch für uns einzelne: Selbstbestimmung schafft man heute nicht mehr allein. Der Soziologe Hartmut Rosa formuliert das so: „Die sozioökonomischen Makrobedingungen unseres Handelns und Lebens können nicht von den Individuen als jeweils einzelnen kontrolliert werden. Wenn diese mehr als das zufällige Ergebnis unkontrollierter Kräfte sein sollen, müssen sie durch einen kollektiven politischen Willensbildungsprozess gesteuert werden.“ Das heißt, wenn wir was erreichen wollen, müssen wir uns miteinander auseinandersetzen und uns sozusagen zusammenraufen. Denn, so der Politologe Andreas Dörner, „Pluralismus bedeutet eine Interessenvielfalt, die sich nicht ‚ausdiskutieren’ und in einer gemeinsamen Einsicht aufgrund vernünftiger Argumente aufheben, sondern nur verhandeln lässt.“ Dafür haben wir noch viel zu wenig demokratische Verfahren, aber auch zu wenig Erfahrung damit, unterschiedliche Interessen zu akzeptieren und in einem fairen Ausgleich unter einen Hut zu bringen.

Reden hilft, wenn es um Verstehen geht

Nazi ist ein Nazi ist ein Nazi. Aber wer (noch) kein Nazi ist, aber als Rassist beschimpft wird oder als Depp, wird sich kaum überzeugen lassen. Auch der unter Grünen beliebte Verweis auf fehlende Bildung führt sicher nicht zu Gesprächsbereitschaft bei den Unterklassifizierten. Schimpf- und Schlagwörter, Etiketten und Labels zielen auf Verurteilung, nicht auf Verstehen. Wie es nicht funktioniert, hat Lara Fritzsche in ihrem Erfahrungsbericht im SZ-Magazin sehr plastisch dargestellt: https://blendle.com/i/suddeutsche-zeitung-magazin/kulturschock/bnl-szmagazin-20170120-123280?source=blendle-editorial&medium=twitter&campaign=DE-socialpicks-20170121. Bei ihren Versuchen, mit Ressentiment-Behafteten ins Gespräch zu kommen, wird schnell deutlich, dass es nichts hilft, andere zu verurteilen und einzusortieren. Nur wenn wir herausbekommen wollen, worum es anderen geht, gibt es – beiderseits – eine produktive Öffnung: es kommt zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, bei der man anderen zuhört, ihre Argumente versucht zu verstehen und miteinander zu einem Ergebnis zu kommen. Uns helfen kein Schlagabtausch und keine Belehrung von oben runter, wir müssen auf Augenhöhe miteinander reden und einander zuhören.

Wir gehen ein paar Tage auf „Klausur“, wie jeden Januar, und wie alle anderen Fraktionen auch. Mit klösterlicher Abgeschiedenheit hat eine politische Klausur ungefähr so viel gemein wie die Fernsehshow Big Brother. Aber wie oft bei politischen Begriffen führt auch das Wort „Klausur“ nur halb in die Irre. Denn wir ziehen uns ja tatsächlich zu Besinnung und Arbeit an einen Ort abseits des gewohnten Betriebes zurück. Jedoch schließen wir uns dabei nicht, wie das die Ursprungsbedeutung meint, automatisch von der Welt ab. Wir gehen nicht „in Klausur“, sondern „auf Klausur“, und haben dabei zwar weniger Rollenzwang und mehr Bewegungsfreiheit, aber nicht so viel mediale Aufmerksamkeit wie die Insassen des TV-Containers. Immerhin kann auch bei uns gelegentlich mal jemand rausgewählt werden. Denn so eine zusammengewürfelte, in einer Art lockerer Kasernierung zusammengeschlossene Gruppe kann eine eigene, alle überraschende Dynamik entwickeln.

Wie eine Selbsterfahrungsgruppe

In diesen paar gemeinsam verbrachten Tagen kann man eine ganze Menge erfahren über sich als Gruppe – und nicht immer sind diese Erfahrungen nur angenehm. Wie in jeder anderen Selbsterfahrungsgruppe auch. Bei meiner ersten Klausur habe ich mich, das weiß ich noch genau, wie ein Fremdkörper gefühlt: ungewollt, ausgeschlossen, als Störfaktor. Die anderen hätten offenbar alle gut ohne mich Neuen auskommen können. Auf der zweiten Klausur war ich begeistert über die Vielfalt, die ich in unserer Fraktion vorfand und aus allen Ecken unseres Sitzungszimmers hören konnte: die unterschiedlichsten Typen und Dialekte waren vertreten, ein richtiges Multikulti, vom unterfränkischen Hessisch bis zum tiefsten Allgäuerisch, von Pfälzisch bis Nürnbergerisch. Bei meiner dritten Klausur war ich platt, wie viel Zündstoff sich in der von mir für so harmonisch gehaltenen Fraktion tatsächlich aufgestaut hatte. Auch das passend zur Selbsterfahrungsgruppe. Nur dass auf Klausur halt kein Moderator dabei ist, kein herausgehobener Kursleiter, so dass die Leitung selber leicht zum Problem werden kann.

Druck auf dem Kessel

Wenn es interessant wird, und gerade auch, wenn es intern wird, kann mit besonderer medialer Aufmerksamkeit gerechnet werden. Da muss dann der Deckel drauf. Größter diesbezüglicher Erfolg unserer ansonsten gespaltenen Fraktion war, dass es uns vor sechs Jahren von Mitte Dezember bis Mitte Februar gelungen ist, den Rücktritt unseres Fraktionsvorsitzenden geheim zu halten. Damit haben wir dafür gesorgt, dass die Berichterstattung zu Anfang des Jahres und insbesondere von der Klausur mit politischen Inhalten und nicht mit Personalfragen voll war. Meist haben ja die Fraktionen auf ihren Klausuren gerade dann viel öffentliche Aufmerksamkeit, wenn sie die gar nicht brauchen. Das liegt dann nicht zuletzt an buchstäblich „embedded journalists“, also mitgereisten Landtagskorrespondenten oder örtlichen Medienvertretern, die, wenn es sein muss, fast rund um die Uhr mit dabei sind und häufig auch im gleichen Hotel übernachten. Die berichten offenbar nichts lieber als interne Machtkämpfe und Streitereien. Da mag die Macht, um die gestritten wird, auch noch so klein sein. Dass wir in wirklich ruhigem Fahrwasser sind, kann ich spätestens dann erkennen, wenn kein Journalist die ganze Klausur mit uns verbringen will.

Botschafter unserer selbst

Wenn wir nicht gerade mit uns selber beschäftigt sind, bieten Klausuren die beste Plattform, um aktiv die Landespolitik zu bestimmen. Nur auf diesen beiden Terminen im Januar und September können wir auch als Opposition eigene Themen setzen, so wie das sonst nur der CSU mit Regierungserklärungen und Verlautbarungen gelingt: Wir sagen was und die anderen müssen darauf reagieren. Umso wichtiger ist natürlich, dass wir die Gelegenheit gut nutzen. Schon relativ kurz, nachdem ich dabei war, haben wir versucht, bei Klausuren mehr klare Botschaften und Ziele zu setzen und überhaupt auf Außenwirkung zu achten. Denn man hat z.B. auf Bildern von Besuchen, die wir etwa in Tagesstätten machten, nicht immer auf Anhieb erkannt, wer die Kindergärtnerin war und wer die Abgeordnete. Gerade bei den Fernsehbildern geht es ja am wenigsten um Inhalte, sondern um Wirkung. Wer bei Kameraschwenks über die Klausurtagung gelangweilt rumlümmelt oder schwätzt, wird im Gegenschnitt bewusst oder unfreiwillig den stummen Kommentar abgeben zum Text, der vorne gesprochen wird. Wir haben beschlossen, grüne Klischeebilder, also Stricken, Schlabberlook und Birkenstock, zu verweigern und den Kameras gezielt andere Bilder zu liefern. Mit meinem neu erworbenen, demonstrativ aufgeklappten Laptop bin ich dann auch prompt das erste Mal „ins Fernsehen“ gekommen.

Kreuther Geist

Der CSU ist es ja gelungen, mit „Kreuth“ einen eigenen Klausur-Mythos zu schaffen. Der wird dann vorher regelmäßig von den Medien aufgerufen, aber nur ganz selten erscheint der Geist von Kreuth dann wirklich und leibhaftig. Insofern war der Putsch gegen Stoiber eine schöne Überraschung. Dass da was im Busch ist, hatte sich seit Stoibers Kehrtwende 2005 abgezeichnet, als er doch nicht als Superminister nach Berlin gehen und in Bayern das Feld räumen wollte. Schon auf der Kreuther Klausur 2006 waren die CSUler mit Wundenlecken beschäftigt und tief verunsichert. Als damals Stoiber den Bayerischen Filmpreis an Maximilian Schell übergab, kalauerte Spaenle, selber noch kein Kabinettmitglied, unter Anspielung auf den Ex-Minister Lafontaine: „Der eine hat den Oskar, der andere macht ihn.“ Dann setzte der damalige Fraktionsvorsitzende Joachim Herrmann den brodelnden Kessel richtig unter Druck, als er ankündigte, er werde die Fraktion schon auf der Klausur auf Stoiber als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2008 festlegen. Da halt dann mal den Deckel drauf. Alois Glück hat später eingeräumt, dass auch unsere Drohung mit einem Abwahl-Volksbegehren angesichts der miserablen Zustimmungswerte für Stoiber eine Rolle spielte. Gerne erinnere ich mich auch an die Sprachlosigkeit des aus Kreuth übertragenden Bayerischen Fernsehens, ein stammelnder Siegmund Gottlieb und ein stummer, vergeblich in der Kälte wartender Live-Berichterstatter.

Kretschmanns Irrtum

Verschiedentlich war ich auch auf Klausuren anderer zu Gast, so beispielsweise als die Grüne Bundestagsfraktion uns mit ihrer Klausur in Miesbach im Endspurt des Landtagwahlkampfs 2003 unterstützte. Zusammen mit dem großen Joschka Fischer haben wir unser kleines Plakat der Presse präsentiert, mit dem wir die Zwei-Drittel-Mehrheit der „Schwarzen Macht“ eher beschworen als behinderten. Und im Januar 2008 hat mich mein früherer Kollege als Fraktionsvorsitzender Winfried Kretschmann nach Baden-Württemberg einladen lassen: „Der eigentliche Anlass für unsere Einladung ist die Wahrnehmung, dass ihr in Bayern gerade gut drauf seid, pfiffige Kampagnen und Aktionen fahrt, insgesamt, so scheint es, eine frische Politik macht. Da wir bisweilen von uns selbst den Eindruck haben, vom Alltagsgeschäft gefressen zu werden und manchmal auch zu viel Routine walten lassen, dachten wir: „von den Bayern lernen, heißt siegen lernen“ :-)“. Ich bin brav hingefahren nach Tübingen und hab von unseren bescheidenen Bemühungen berichtet und damals schon gewusst, dass es besser umgekehrt gelaufen wäre: Wenn wir doch von ihnen hätten siegen lernen können.