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Gerechtigkeitsfragen können heutzutage nicht mehr ergebnisoffen diskutiert werden, weil dafür der Diskursrahmen fehlt beziehungsweise nur ein völlig ungeeigneter, falscher vorhanden ist. Deshalb verläuft sich im einen Fall jeder Versuch, abseits der dominanten, aber verzerrenden Deutungen Klarheit zu erlangen, meist im Nirgendwo, weil sich kein Trampelpfad bildet, auf dem Argumente vertieft, geprüft und geschärft werden könnten. Andererseits fällt die Debatte immer wieder ins alte, falsche Gleis zurück, weil die irreführende Fahrspur bereits so vertieft und an den Rändern so schmierig ist, dass man immer wieder darein abrutscht und man keine Chance hat, einen neuen, mehr Klarheit bringenden Weg einzuschlagen. Das passiert vor allem bei Fragen, die um einen möglichen Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum, um institutionalisierte Privilegien und systematische Erblasten kreisen. Aber in der Politik gilt: Nur wer ein Problem erkennt, kann es lösen.

Wie man hineinruft …

Politisch spielt ein Problem nur dann eine Rolle, wenn relevante Akteure es für eins halten und als solches adressieren. Eine politische Beschreibung bzw. ein passender Referenzrahmen ist Voraussetzung dafür, dass ein Problem überhaupt Gegenstand politischer Überlegungen oder gar politischen Handelns werden kann und schließlich wird: https://seppsblog.net/2020/11/30/schwarzes-loch-klimakrise/. Die Kommunikationspsychologin Elisabeth Wehling, die eine Zeitlang mit dem Schlagwort „Framing“ medial Furore gemacht hat, bestätigt in ihrem Buch „Denken in Worten“: „Was nicht über Sprache zum Teil des gemeinschaftlichen Bewusstseins wird, kann auch nicht gemeinschaftlich durchdacht und in politische Handlungen umgesetzt werden.“ Und bereits früher präzisierte sie im Deutschlandradio Kultur (31.8.09): „Ideen, die nicht gemeinsam aktiviert werden, die werden nicht neuronal gestärkt und werden nicht zu unserem Common sense, zu unserem politischen Verständnis der Situation.“ In den letzten Jahrzehnten, meint Wehling, habe sich der öffentliche Diskurs zu Lasten von sozialkritischen Debatten verschoben.

Schräge Debatten und verlogener Neusprech

Dafür taugliche Begriffe seien aus der Öffentlichkeit verdrängt worden: Werte wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit oder demokratische Mitbestimmung, die bis in die Achtziger Jahre hinein noch die öffentliche und politische Debatte bestimmt haben, wurden systematisch durch konservative bzw. neoliberale Begriffe ersetzt. Als Lieblingsbeispiele führte sie – auch in Fortbildungsveranstaltungen für uns Grüne – gerne Worte wie „Steuerentlastung“ und „Steuererleichterung“ an, als nur scheinbar neutrale, im Kern erzkonservative Verständnisse davon, was Steuern seien, nämlich vorgeblich in erster Linie eine Last für den Einzelnen, statt umgekehrt Voraussetzung einer lebenswerten Gesellschaft. Wer diese Begriffe als Grüner verwende oder auch nur unwidersprochen lasse, untergrabe unfreiwillig die eigene Position. Noch schwieriger wird es, wenn sich verlogene Begriffe exklusiv und monopolartig etabliert haben, wie beispielsweise „sozialer Brennpunkt“, wenn es um Armenviertel geht, oder, noch schlimmer: „bildungsferne Schichten“, um nicht „Arme“ sagen zu müssen. Beide Begriffe sind besonders infam, weil die Armen damit auch noch ihrer Armut beraubt und ihnen dafür mangelnde Eigenverantwortung und Schuld an ihrer miserablen Lage unterstellt werden.

Hyperreiche verschleiern ihren Reichtum

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hat darauf hingewiesen, dass selbst ein Begriff wie „reich“ missbraucht werden kann und wird, nämlich „indem man schon Personen reich nennt, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens zur Verfügung haben“ – https://www.sueddeutsche.de/kultur/armutsbericht-soziale-ungleichheit-reichtum-christoph-butterwegge-bundesregierung-1.5273323?reduced=true. Wenn wir Grünen demnächst wieder „Reichensteuern“ fordern, wird sich diese Mittelschicht erneut betroffen fühlen, ohne es zu sein. So gelingt es den wirklich Reichen, also dem einen Prozent „Hyperreichen“, zu verschleiern, dass ihnen über 35 Prozent des Nettogesamtvermögens gehören bzw. wie sehr die soziale Schere bereits auseinanderklafft. „Noch heute denken viele, bei uns gebe es weder extremen Reichtum noch nennenswerte Armut.“ Ein Ergebnis aktiver Verschleierungspolitik: „Begriffe wie ‚Klasse‘ und ‚Klassengesellschaft‘ gelten hierzulande als marxistische Signalworte und sind entsprechend verpönt.“ Lustigerweise, bzw. auf eine die heutige Machtverhältnisse entlarvende Art, ist „Kapital“ als Begriff nur dann nicht negativ besetzt, wenn Kapitalisten selber ihn oder das, was er bezeichnet, ungeniert benutzen.

Verwirrende Steuerdebatten

Wie verwirrt viele sind, was ihre persönliche soziale Lage angeht, hat mich bereits früher überrascht, als ich mit meiner Forderung nach einer spürbaren Erbschaftssteuer für Reiche auf heftige Ablehnung bei FOS- und BOS-Schüler*innen gestoßen bin. Sie, die allenfalls nur wenig Erbe zu erwarten hatten, verteidigten das Verfügungsrecht des „selbsterworbenen Eigentums“ auch noch nach dem Tod. Sie haben ihre Hoffnung, etwas zu Vererben zu erwerben, verteidigt. Dank solcher Identifikationen können sich die Superreichen hinter potentiellen Aufsteigern verschanzen sowie hinter jedem noch so kleinen Haus- oder Irgendwasbesitzer, der Angst um sein bisschen Eigentum hat, nach der Devise „Wehret den Anfängen“. Ähnlich absurd verlaufen Debatten, wenn sich „Geschäftsleute gegen höhere Gewerbesteuer“ wenden: „Viele Existenzen und Arbeitsplätze seien bedroht und würden durch solche Maßnahmen noch mehr gefährdet“, https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/germering-geschaeftsleute-gegen-hoehere-gewerbesteuer-1.5228917. Als ob die Gewerbesteuer Einfluss auf den Geschäftserfolg und nicht bloß auf den Gewinn der Kapitaleigner hätte. Noch verwirrter zeigt sich nur der Gröbenzeller Bürgermeister, selbst Betreiber von allerlei Gewerbe: „Die höchsten Einnahmen würden da erzielt, wo die geringsten Hebesätze seien“ (MM/FFB 15.4.21). Leider scheuen auch Grüne nicht vor „Steuerdumping“ zurück, wenn es um ihre Gemeinde geht.

„Rassen-“ statt Klassenfragen

Bei so viel Verwirrung ist es selbst ohne „Klassenkampfvokabular“ schwierig, Gerechtigkeitsdebatten anzuzetteln. Zum einen weil man derzeit praktisch nicht über mehr Steuergerechtigkeit reden kann, also etwa über „Reichensteuern“, ohne dass zuverlässig jemand vor einer „Neiddebatte“ warnt und damit jede Infragestellung vorherrschender sozialer Schieflagen abwürgt: https://seppsblog.net/2013/10/17/neid-statt-gerechtigkeit/. Zum anderen aber kann beispielsweise eine Diskussion über Gentrifizierung, also darüber, dass Arme und untere Mittelschicht aus für Reiche attraktiven Vierteln verdrängt werden, offenbar nicht als soziale, sondern nur als rassistische Debatte geführt werden. „Der Schwabe wird in Berlin gerne als Motor der Gentrifizierung gesehen“, notiert die „Welt“: https://www.welt.de/vermischtes/article150456241/In-Kreuzberg-herrscht-der-Haeuserkampf.html. Und dass Russen und Chinesen sich „bei uns einkaufen und uns aus unseren Vierteln verdrängen“, stimmt ja auch. Die machen das, völlig unabhängig von ihrer vermeintlichen Rasse und Herkunft, weil sie – genau wie „unsere“ Hyperreichen – zu Hause ohne viel Steuern und Federlesens überschüssiges Kapital angehäuft haben und jetzt sicher investieren wollen. Wenn wir darauf Einfluss nehmen wollen, kommen wir um eine Gerechtigkeits- und Steuerdebatte nicht herum.

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Für den isländischen Schriftsteller Andri Snær Magnason ist die „Klimakrise ein riesiges schwarzes Loch, so dicht, dass du es nicht wirklich sehen kannst“ – https://www.sueddeutsche.de/leben/gletscher-klimakrise-island-eisbaeren-1.5128555?reduced=true. Aber in der Politik gilt: Nur wer ein Problem wahrnimmt, kann es lösen. Politisch spielt ein Problem nur dann eine Rolle, wenn relevante Akteure es für eins halten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass Problemlösung und Problemdefinition auch zusammenpassen, eine richtige Definition automatisch zur Lösung führt oder nicht nebenbei und aus Versehen ein anderes Problem gelöst oder erst geschaffen werden kann. Aber es bedeutet in jedem Fall, dass eine Definition bzw. ein passender Referenzrahmen eines politischen Problems Voraussetzung dafür ist, ob ein Problem überhaupt Gegenstand politischer Überlegungen oder gar politischen Handelns werden kann und schließlich wird.

Referenzrahmen bestimmt Optionen

Der „gesellschaftlich anerkannte“ – also nicht breit umstrittene – Bezugsrahmen entscheidet, ob Arbeitslosigkeit eher als persönliches oder ökonomisch-gesellschaftliches Versagen oder gar als eine Art Gottesurteil gesehen wird. Davon hängt beispielsweise auch ab, ob sie als gesellschaftliche Aufgabe gesehen, mit entwürdigender Mildtätigkeit beantwortet oder politisch ignoriert wird. Nicht zuletzt für die Arbeitslosen selber macht es einen großen Unterschied, ob sie sich im Extremfall mit ihrem persönlichen Versagen abfinden sollen oder politisch aktiv werden und für ihre Gruppeninteressen oder generelle Forderungen nach Gerechtigkeit eintreten können. Ein Problem muss also, damit es politisch relevant wird, so definiert werden, dass es am Ende nicht lediglich als Zustandsbeschreibung, sondern als Handlungsentscheidung bzw. im Idealfall als Handlungsaufforderung erscheint. Deshalb ist es ein so weiter Weg von der wissenschaftlich fundierten Analyse etwa der drohenden Klimakatastrophe zu einem individuellen und erst recht politischen Verhalten, das der daraus erwachsenden Verantwortung halbwegs gerecht wird.

Brennende Klima-Fragen

Die Kluft zwischen Erkenntnis und Handeln kennen wir gerade auch aus unserem persönlichen Verhalten. Da sind wir oft versucht, zu moralisieren und ein Raster von „Gut“ und „Böse“ anzulegen. Erfahrungsgemäß führt das aber nicht dazu, dass wir oder andere das bisherige Verhalten ändern, sondern nur dazu, dass diejenigen, die beurteilt bzw. verurteilt werden, sich schlecht, und diejenigen, die verurteilen, sich besser fühlen – ohne dass sich was ändert. Andri Snær Magnason versucht in seinem jüngsten Buch „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“, diese Kluft anders zu überbrücken. Im SZ-Interview vom 28.11.2020 erläutert er die Dringlichkeit der Klimafrage: „Wir Menschen sind längst eine geologische Gewalt. Wir haben ein riesiges Feuer entfacht.“ Umso fragwürdiger ist für ihn die weitgehend und vor allem im Vergleich zur Corona-Krise fehlende Handlungsbereitschaft. „Wir haben keine Verbindung zu dem, was geschieht, wir begreifen es einfach nicht“, meint Magnason.

Klimakrise im Vergleich zur Corona-Krise

Weil ein handlungsbezogener Referenzrahmen fehlt, fehlt die Einsicht in die Dringlichkeit, anders als in der Corona-Krise: „Stellen Sie sich vor, Greta Thunberg würde sich hinstellen und sagen: Keiner darf mehr ins Konzert oder auf eine Beerdigung wegen des Klimawandels.“ Die Klimakatastrophe entzieht sich als wahrnehmbares Problem einem handlungsorientierten Referenzrahmen, weil wir keine direkten Bezüge herstellen. So fällt sie zum einen aus dem vertrauten zeitlichen Rahmen: „wir scheinen keinerlei Beziehung zur Zukunft zu haben“. Zum anderen übersteigen Geschwindigkeit und Ausmaß des von ihr ausgelösten Veränderungsprozesses scheinbar unsere Vorstellungskraft. „Wir bewegen uns also heute im Tempo nicht mehr nur der Geschichtsbücher, sondern der Geologiebücher“. Mehr noch, das Ausmaß der Veränderungen scheint der Welt der Mythologie zu entstammen: „Keiner der Tyrannen der Vergangenheit, nicht Cäsar und nicht Dschingis Khan, wäre je auf die Idee gekommen, er könne das Wetter manipulieren. Das war immer die Sache der Götter. In der Geschichte bewegst du Nationen und Königreiche. Im Mythos aber bewegst du die Elemente … Da sind wir heute. Wir bewegen die Elemente. Wir lassen die Ozeane ansteigen und die Gletscher schmelzen.“ Aber wir sind uns unserer Gottähnlichkeit nicht bewusst, deshalb werden wir den Folgen unseres Handelns in keiner Weise gerecht.

Wir können und müssen handeln. Jetzt!

Sogar wir Grünen, die wir seit mehr als 30 Jahren vor der Klimakatastrophe warnen, haben unser politisches Handeln nicht immer nach deren Dringlichkeit und Dimensionen ausgerichtet. Darin sind wir nicht allein: „Selbst der Wissenschaftler, der auf die Bühne geht und all das in Worte fasst, der ist sich nicht wirklich bewusst, was er da sagt. Es braucht seine Zeit, bis ein neu geprägtes Wort seinen Platz findet und beginnt, das Handeln der Menschen zu beeinflussen. Und es funktioniert nicht, wenn man den Wissenschaftler allein lässt mit seinen Konzepten. Es muss in Metaphern überführt werden, in die Kultur. … Würde er es wirklich verstehen, er würde laut schreiend herumlaufen.“ Allerdings schreckt Schreien eher ab. Deshalb müssen wir andere Alternativen der Emotionalisierung ausprobieren. „Meine Antwort ist, dass die Konsequenzen unseres Handelns Menschen etwas antun werden, die wir kennen und lieben.“ So oder so müssen wir die drohende Klimakatastrophe als vordringliche gesellschaftliche Aufgabe erkennbar und fühlbar werden lassen.