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„Germering braucht direkte Demokratie“, kommentierte der Lokalreporter Karl-Wilhelm Götte eine Debatte über einen Bürgerentscheid in unserem Stadtrat – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/germering-stadtrat-lehnt-buergerbegehren-ab-1.5058208. Ähnliche Diskussionen finden derzeit nicht nur in meiner bescheidenen Heimatstadt, sondern fast überall in Deutschland, Europa und der Welt statt. Vielen stellt sich heute die Frage, ob und wie das Verhältnis zwischen repräsentativer und direkter Demokratie neu geordnet werden muss oder kann. Schnell wurde auch bei uns „aus der Diskussion um das Ratsbegehren am Ende ein Schlagabtausch zwischen direkter und repräsentativer Demokratie“ – https://www.merkur.de/lokales/fuerstenfeldbruck/germering-ort28724/germering-kein-ratsbegehren-niederlage-fuer-gegner-des-briefzentrums-90063410.html. Die Argumente gegen direkte Demokratie sind dabei so alt wie die repräsentativen Institutionen selber. Deshalb kann es nicht schaden, das Entstehen und die Entwicklung dieser unserer Institutionen aus neuer Perspektive unter die Lupe zu nehmen.

Ute Daniels Öffnung der Demokratiegeschichte

Die Historikerin Ute Daniel erzählt „eine faszinierende Geschichte vom Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie“ – https://www.hamburger-edition.de/buecher-e-books/artikel-detail/postheroische-demokratiegeschichte/d/2542/Postheroische_Demokratiegeschichte/6/. Verdienstvoll ist jedenfalls, dass sie unsere Demokratie- und Parlamentsgeschichte wieder öffnet: Sie verläuft weder teleologisch, also in ein höheres Ziel mündend, noch sind ihre Ergebnisse sakrosankt, also unantastbar und unveränderlich. Wir können innerhalb eines praktikablen Rahmens suchen, ob uns etwas besser passt. Daniel will mit ihrer Interpretation der Geschichte unsere politischen Handlungsmöglichkeiten erweitern. Dazu gehört auch, dass sie uns die wenig hehren, realpolitischen Gründe und Vorgänge aufzeigt, die zu unserem heutigen parlamentarischen System geführt haben, und dafür explizit die Eigengesetzlichkeiten parlamentarischer Regierungssysteme in den Blick nimmt. Bei alldem ist es durchaus verzeihlich, dass sie gelegentlich übers Ziel hinausschießt.

Was die Geschichte lehrt

An Jubel- oder Gedenktagen wird gern und mit großer Geste behauptet, dass Geschichte irgendwelche Lehren für uns bereithält. Auch Ute Daniel bejaht dies, aber unter der Voraussetzung, dass diese Geschichte „weder Patentrezepte liefert noch die kindliche Vorstellung bedient, sie laufe irgendwie auf uns zu“. Das heißt, wenn wir aus der Historie etwas lernen können, dann sicher nicht deshalb, weil wir dort Rezepte fänden für unsere heutigen Probleme. Politisch Sinn macht Geschichte vor allem dann, wenn sie uns zeigt, wie das, was uns an politischen Bedingungen oder Gesetzlichkeiten beschäftigt oder gar stört, entstanden ist, und warum. Dadurch können wir entscheiden, ob diese Voraussetzungen noch vorliegen. Was erkennbar geschichtlich und mit bestimmten Gründen entstanden ist, lässt sich verändern oder beibehalten. Unsere heutige parlamentarische Demokratie sei Dank ihrer Geschichte einseitig „auf die Hervorbringung handlungsfähiger Regierungen“ ausgerichtet, kritisiert Daniel. Aber das reicht vielen heute nicht mehr. Denn auf „die Frage, wie politische Partizipation der Bevölkerung, wie Einfluss von unten auf ‚die da oben‘ möglich ist, hat es keine Antwort.“

Mehr Teilhabe, mehr Demokratie

Wenn also der Germeringer CSU-Fraktionsvorsitzende wie andere vor ihm erklärt: „Wir wurden gewählt, um Entscheidungen zu treffen“, dann unterschlägt er, dass ja bereits heute Elemente direkter Demokratie in unserer Verfassung und Gemeindeordnung enthalten sind – wenn auch nicht unbedingt dank der CSU. Völlig falsch liegt er, wenn er unterstellt, mit einem Instrument wie einem Bürgerentscheid solle „das Vertrauen in gewählte Institutionen untergraben werden“ – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/germering-stadtrat-lehnt-buergerbegehren-ab-1.5058208.  Denn wie sich, so Daniel, „nicht erst heute zeigt, ist die regelmäßige Wahl von Personen und Parteien kein hinreichendes Mittel, um Einfluss ‚von unten‘ auf das politische System zu nehmen, um also das Prinzip politischer Teilhabe tatsächlich in die Praxis umsetzen zu können“. Nur wenn wir die repräsentative durch direkte Demokratie ergänzen, lässt sich auf Dauer das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen sichern.  Der Weg dorthin ist allerdings alles andere als eine gmahte Wiesn. Den Umgang mit direkter Demokratie, ihren Verfahren und insbesondere den Schwierigkeiten, die ein allzu simples Ja-Nein-Schema etwa bei Referenden aufwerfen, muss man lernen, wie alles andere auch. Aber, so tröstet uns Daniel im ersten Satz ihrer Vorbemerkung, man kann aus der Geschichte lernen, „vorausgesetzt, man will es.“

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Ich weiß nicht, was die Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments geritten hat. Politisch klug war es jedenfalls nicht, die Immunität von Marine Le Pen für so eine fragwürdige Ermittlung aufzuheben. So werden „Ermittlungen gegen die FN-Chefin möglich. Sie soll IS-Propaganda verbreitet haben. … Die Präsidentschaftskandidatin könnte nun wegen der Vorwürfe gegen sie vernommen werden. Am Ende könnte dann ein Strafprozess stehen.“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-le-pen-verliert-immunitaet-1.3402691). Wahrscheinlich wird es gar nicht so weit kommen. Auf jeden Fall aber bleibt der Versuch, eine politisch unerträgliche Frau mit rechtstaatlich unerträglicher Dreistheit zu inkriminieren. Am Ende wird dann der Rechtsstaat beschädigt sein und das Prinzip der Immunität, aber nicht der Ruf von Le Pen. Die parlamentarische Immunität sollte ursprünglich – https://de.wikipedia.org/wiki/Politische_Immunit%C3%A4t – vor allem dazu dienen, die „sich herausbildende Legislative vor möglicher Willkür der damals noch monarchischen Exekutive zu schützen (etwa vor erfundenen Anklagen und manchen Festnahmen, die es beispielsweise im 19. Jahrhundert vor wichtigen Abstimmungen gab)“.

Schutz vor politischer Justiz

Heute zielt Immunität darauf ab, die „Freiheit der Meinungsäußerung (Redefreiheit) besonders für gewählte Volksvertreter zu garantieren, da diese den Interessen ihrer Wählerschaft verpflichtet sind“. In den meisten Ländern ist deshalb eine Strafverfolgung wie bei uns nur nach Genehmigung durch den Landtag möglich (https://www.bayern.landtag.de/parlament/landtag-von-a-z/#immunitaet). Um Missbrauch zu verhindern, haben sich die Parlamente meist entsprechende Regeln gegeben. Bei uns ist deshalb eine Vereinfachte Handhabung des Immunitätsrechts in Gebrauch: https://www.bayern.landtag.de/fileadmin/images/content/Beschluss_Handhabung_Immunitaetsrecht_2009.pdf. Danach genehmigt der Landtag bis zum Ablauf der Wahlperiode die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen seine Mitglieder, sofern sich es sich nicht um „Beleidigungsdelikte mit politischem Charakter“ handelt. Abgeordnete sind also nicht geschützt, wenn sie zu schnellfahren oder andere „unpolitische“ Vergehen begehen. Aber sie sind, zumindest bis die Kolleginnen und Kollegen den Schutz aufheben, vor „erfundenen Anklagen“ und politischer Willkür sicher.

Immunität erleichtert die parlamentarische Arbeit

Dank Immunität müssen Abgeordnete keine Angst haben, sofort mit einem Bein im Gefängnis zu stehen, wenn wir unsere politische Arbeit tun. Sonst müssten wir immer übervorsichtig sein, etwa wenn wir in einem Untersuchungsausschuss einen Vorgang behandeln und die Staatsanwaltschaft parallel ermittelt. Wenn dann die Staatsanwaltschaft beispielsweise den Eindruck hätte, dass bei der Befragung von Zeugen wesentliche Teile aus Strafakten zitiert wurden, „dann muss sie ein Js-Verfahren eintragen – vielleicht nicht bei einem Abgeordneten, weil wir Immunität haben.“ So jedenfalls die Warnung des damaligen Vorsitzenden des Landesbank-Untersuchungsausschusses. Ohnehin schützt die Immunität selbst bei politisch motivierten Gesetzesüberschreitungen nur bedingt. Zum Beispiel wurde ein Grüner der ersten Stunde, kaum war er aus dem Parlament ausgeschieden, für eine Bannmeilenverletzung verknackt, die er Jahre zuvor als Abgeordneter begangen hatte. Das Gedächtnis der Staatsanwaltschaft ist offenbar gut. Da wird dann nach dem Ablauf der Immunität gern mal abgerechnet.

Dummdreister Missbrauch des Rechtsstaats

Ermittlungen wegen politisch motivierter Vergehen können politisch auch mal nach hinten losgehen, nämlich wenn sie so offensichtlich parteipolitisch begründet sind wie die gegen Le Pen. Dass „das EU-Parlament ihre Immunität aufhob, kümmert sie wenig. Im Gegenteil, Le Pen zelebriert es regelrecht, wenn „das System“ – also der Rechtsstaat – gegen sie vorgeht“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-dem-kontinent-droht-ein-franzoesisches-roulette-1.3402072). Das fällt ihr umso leichter, weil für jeden erkennbar der Rechtsstaat aus Gründen parteipolitischer Konkurrenz missbraucht wird. Denn als sie Ende 2015 drei Fotos verbreitete, die vom IS als Propagandamaterial für Gräueltaten benutzt wurden, hat sie das ja gerade nicht gemacht, um gesetzeswidrig für den IS zu werben. Da ist es dann kein Wunder, dass es ihr wieder gelingt, „ihrer Wählerschaft Ermittlungen gegen sie als politisch motiviert zu verkaufen“. Abgeordnete sollten nicht leichtfertig auf rechtsstaatliche Errungenschaften verzichten, nur weil es ihnen gerade parteipolitisch zupass kommt oder es einer vermeintlich gerechten Sache dient. Solche schäbigen Tricks können sich schnell auch mal gegen einen selber richten.

Ein Parlamentarier, der im Parlament nicht reden will, ist sein Geld nicht wert. Das traf diese Woche praktisch auf fast die ganze CSU-Fraktion zu. Aber immerhin haben sie sich ihr Sitzungsgeld schwer ersessen müssen. Denn Fraktionsvorsitzender und Ministerpräsident hatten für die Plenarsitzung Anwesenheitspflicht ausgegeben. Da saßen die CSUler dann den größten Teil der Debatte über ihr schäbiges „Integrationsgesetz“ weitgehend stumm dabei, von gelegentlichen eruptiven Ausbrüchen abgesehen: http://www.sueddeutsche.de/bayern/integrationsgesetz-nach-stunden-debatte-landtag-verabschiedet-integrationsgesetz-1.3285664. „Die CSU hat die Marathondebatte provoziert“, kommentiert die SZ, denn sie „hat der Opposition vorgegaukelt, in der wichtigen Frage der Integration eine parteiübergreifende Lösung zu suchen“, aber das Gesetz dann knallhart durchgezogen: http://www.sueddeutsche.de/bayern/kommentar-die-csu-hat-die-marathondebatte-provoziert-1.3287385.

Bayerische Spezialitäten

Die CSU war in keiner Phase zu Kompromissen bereit, ja sie hat, anders als angekündigt, noch nicht mal darüber reden wollen. Genau deshalb war der lange Sitzungsmarathon richtig und wichtig, weil er auch offenlegte, wie die CSU in ihrer wiederbelebten Arroganz der Macht in Bayern Politik macht und wie schäbig das jetzt durchgedrückte Gesetz ist. Weder Sitzungsdauer noch Schäbigkeit sind was spezifisch Bayerisches. Aber die Art und Weise, wie und warum das so abgelaufen ist, hat schon was mit unseren besonderen Verhältnissen zu tun. Dass die CSU über bestimmte Themen noch nicht mal reden will, hat es früher schon gegeben. Als wir Grünen 2001 das bundesweit erste Integrationsgesetz vorlegten, haben CSU und leider auch die SPD schon in den Ausschüssen jede Auseinandersetzung darüber verweigert und jeden einzelnen Punkt kommentarlos abgelehnt. Typisch war auch, dass sie die Debatte dann aber außerhalb des Landtags heftig fortsetzten, in den Medien und an den Stammtischen, wenn wir nicht dabei waren und sie ungeniert über uns herziehen konnten.

Die Mehrheit reicht der CSU nicht mehr

Ein Parlamentarier, der beleidigt oder aus Mangel an Argumenten oder warum auch immer die Debatte verweigert, macht sich damit auch lächerlich. Das haben auch in den eigenen Reihen nicht alle verstanden. Die CSU-Hinterbänkler sowieso nicht: Sie haben in den ersten Stunden endlich auch mal reden dürfen und mussten jetzt auf einmal ihre Redebeiträge wegschmeißen, sie hatten sie ganz umsonst schreiben lassen. Aber genauso haben viele Ältere nur den Kopf geschüttelt. Man hätte, um die Redezeit nicht uferlos auszudehnen, zu jedem Punkt nur kurz was sagen und so an der Debatte teilnehmen können. Was er überhaupt nicht versteht, sagte mir ein erfahrener CSUler: „Wenn man die Mehrheit hat, warum muss man dann auch noch brüllen?“ Tja. Das liegt halt auch daran, dass diese Mehrheit wackelt und dass sie schon mal verloren war. Jetzt halten viele in der CSU nicht mal mehr Widerspruch aus, weil sie merken, dass sie die alten Mehrheiten nicht mehr einfach herbeizwingen können. Angst und Wut liegen da ganz eng beieinander.

Trockene Angelegenheit

Ich persönlich, und da hab ich vor meinem eigentlichen Redebeitrag – http://www.sepp-duerr.de/2874 – auch keinen Hehl daraus gemacht, fand es gar nicht so schlimm, dass die CSUler mal zuhören mussten, ohne widersprechen zu dürfen. Aber so ganz ohne Widerspruch, das hab ich ihnen auch gleich zu verstehen gegeben, würde es mir auf Dauer keinen Spaß machen. So wie es heißt: „Allein ist es auch im Himmel nicht schön“, kann ich für mich sagen: „Allein im Landtag zu streiten macht auch keinen Spaß.“ Danach, um ein Uhr in der Nacht, hatte ich sauber Durst und hab ein Weißbier aufmachen lassen. Das war gar nicht so einfach. Denn für die CSU herrschte nicht nur Anwesenheitspflicht und Rede-, sondern auch noch Alkoholverbot. Offiziell jedenfalls. Deshalb hat die Landtagspräsidentin auch den Ausschank auf der Plenarebene verbieten und die alkoholischen Getränke wieder in die Gaststätte zurückbringen lassen. Aber, sagte man mir, dort sei schon jemand, auch wenn es geschlossen aussehe, ich müsse nur reingehen.

Speakeasy oder Sog-gor-nix

Speakeasy, so hießen in der Zeit des landesweiten Alkoholverbotes in den USA die sogenannten „Flüsterkneipen“, in denen es unter der Hand und halboffiziell doch was zu Trinken gab: https://de.wikipedia.org/wiki/Speakeasy. Ob das bei den CSUlern funktioniert, dass sie nach dem Genuss von Alkohol leichter sprechen oder doch etwas schwerer, ließ sich ja in der Nacht von Donnerstag auf Freitag nicht mehr feststellen. Aber die „Heldin der Woche“ – http://www.sueddeutsche.de/bayern/integrationsgesetz-nach-stunden-debatte-landtag-verabschiedet-integrationsgesetz-1.3285664 – ließ nicht nur niemanden verhungern, sondern auch nicht auf dem Trockenen sitzen. Mit meinem Weißbierglas in der Hand habe ich dem Plenum gegenüber einen dezenten Hinweis gegeben. Da bin ich nicht lange allein geblieben. Allen habe ich gerne über die Quelle Auskunft gegeben – und in dem Falle haben sich viele CSUler bis hinauf zur Ministerin meinem Rat nicht verschlossen. Wenn es nur immer so einfach wäre im bayerischen Parlament, und die CSU öfter auf mich hören würde.

Wie in jeder ordentlichen bürgerlichen Familie ist die Zeit der Weihnachtsfeiern auch bei uns in der Landtagsfraktion schon oft die Zeit von Krach und Ärger gewesen. In den letzten Sitzungswochen vor den Feiertagen haben wir so manchen Abgeordneten und manche Fraktionsvorsitzende im Streit verloren. Die Voraussetzungen für solche Zerwürfnisse sind in diesen Tagen immer besonders günstig: Wenn sich so viele Menschen regelmäßig so häufig treffen und so hohe Erwartungen aneinander haben, die ebenso regelmäßig enttäuscht werden, und man so lang und eng beieinander ist wie sonst selten, kann man sich nötigenfalls gehörig auf die Nerven gehen. Besonders professionell ist das vielleicht nicht, dass Kolleginnen und Kollegen beispielsweise Kritik an ihren Initiativen oder Argumenten persönlich nehmen, statt als Chance, diese zu verbessern. Aber es kommt halt leicht mal vor. Umso leichter, je enger und öfter man aufeinandersitzt.

Lauter Streit statt stader Zeit

Der Weihnachtskrach ist ein Phänomen, das deshalb nicht nur uns Grüne, sondern gerne mal das ganze Parlament befällt. Wie vor der Sommerpause wollen auch vor den Weihnachtsferien die meisten Abgeordneten in einer Art Torschlusspanik auf die Schnelle Feuerwerke zünden, Weltruhm erringen oder sonst allzu lang Versäumtes doch noch nachholen. Der Druck vor den sitzungsfreien Wochen ist deshalb enorm. Und dann hocken eben noch alle ungewöhnlich lang und eng aufeinander: An drei aufeinanderfolgenden Plenartagen ist Vollversammlung. Kein Wunder, dass dann bei den Debatten im Plenum die Nerven bei vielen blank liegen. Jeder Streit sollte allerdings möglichst angezettelt, durchgefochten und wieder beigelegt sein, bevor am Ende der Sitzungsperiode salbungsvolle Worte der Präsidentin, eines SPD-Vorstandsmitglieds als Vertretung der Opposition und des Ministerpräsidenten alle in die Parlamentsferien verabschieden. Krach, Krisen und Intrigen häufen sich in dieser Zeit. Direkt besinnlich ist die parlamentarische Vorweihnachtszeit selten.

Ja, ist denn heut schon Weihnachten?

Weihnachten, Zeit der Krisen. Nie war das wahrer als im Dezember 2000, als auch in Bayern BSE-Fälle gefunden wurden. Wo sich die CSU und ihre verantwortlichen Minister bis hinauf zum Chef selber doch so sicher waren, im Land der Seligen und der garantierten „Qualität aus Bayern“ zu leben. Ich war kurz zuvor Fraktionsvorsitzender geworden. Da hat mich Stoibers damalige rechte Hand, der Staatsminister Erwin Huber, angerufen. Damals war Huber noch nicht verbittert und frustriert ob der eigenen Unzulänglichkeit, sondern noch voll launigem Selbstbewusstsein: Ob das denn für mich nicht wie Weihnachten wäre, wenn er persönlich bei mir zu Hause anrufe? Ob ich erfreut sei, wollte er wissen. Weniger erfreut, als überrascht. Der Ministerpräsident wolle vor einem Sonderplenum des Landtags eine Regierungserklärung zu BSE abgeben. Davon wolle er mich unterrichten, bevor sie an die Presse gingen. Ob sich der Ministerpräsident sich überhaupt aus der Deckung hervorwage? gab ich zurück. Und ob denn die Gesundheitsministerin Stamm damit gerettet sei, wenn er sich so deutlich vor seine Minister stelle? Am 9. Januar werde nicht über Personalien gesprochen, sondern über Sachpolitik. „So wie immer bei uns“. Da war der Befreiungsschlag auf Kosten der bald Ex-Ministerin wohl schon vorbereitet.

Landtags-Weihnachtsfeier: Gemeinsam Leut ausrichten

Kein Weihnachten ohne eine anschwellende Flut von Feiern. Wenn man halbwegs wichtig sein will, muss man da dabei sein. Eine der wichtigsten, weil aktuellste Infobörse und wertvoller politischer Pegelstandsmesser, ist das alljährliche Weihnachtsessen des Landtags mit den Pressevertretern. Da kann man erleben, wie sehr amtierende und gewesene CSU-Minister ihre Kabinettskollegen als Konkurrenz betrachten und sich kaltlächelnd über deren Fehler und Eigenheiten auslassen. Gerne und genüsslich in Gegenwart des politischen Gegners. So erfährt man, wer machtpolitisch noch dazu gehört, obwohl er schon zurückgetreten ist oder wurde: wie Sauter, der auch nach seiner Entlassung wie selbstverständlich neben den Mächtigen an den reservierten Tischen Platz nahm. Und man erfährt, wer schon weg ist, obwohl er oder sie offiziell noch da sind, wie Noch-Ministerin Hohlmeier im Dezember 2004. Wie immer, wenn solche Stürze erwartet werden, war der Plenarsaal voller fremder Fotografen, gekommen, um ihren Absturz abzulichten. Am Abend bei der Landtagsweihnachtsfeier kamen die CSU-Jungtürken später an unseren Tisch, um sich gleichsam nach vollbrachter Tat Applaus und Bestärkung in ihrem Kampf gegen die bis dahin stärkste Hoffnung der CSU zu holen: Drei künftige Kabinettsmitglieder: sie („wir 94er“) hatten sich zwecks Karrierehilfe zusammengetan, hatten schon Ausschussvorsitze besetzt und wollten nun weiter nach oben. Zwei Meter weiter stand die gerade auch von ihnen angeschossene Hohlmeier, von Journalisten belagert. Warum brauchten diese Buben meine Anerkennung?

Advent, Advent, der Christbaum brennt

„CSU stimmt gegen eigenen Antrag“, lauteten die schönen Schlagzeilen, nachdem wir sie im Dezember 2001 über ihren alten Antrag zu Factory-Outlet-Centern hatten abstimmen lassen. Stoiber hatte damals eine seiner Kehrtwenden hingelegt. Deshalb musste die CSU-Fraktion vor der Beratung unseres Antrags extra eine Fraktionssitzung anberaumen. Im Plenum kam es dann zu einer dreistündigen Debatte, in der vor allem der damalige Wirtschaftsminister überschnappte und ausfällig wurde – nachdem ich ihn permanent mit Zwischenrufen gereizt hatte. Die SZ schrieb am Tag drauf unter „Frohe Weihnacht“ in der Rubrik „Aus der Landespolitik“: „Weil Schnappauf, der immer noch so aussieht wie der Klassenstreber kurz vor dem Abitur, für eine derbe Replik zu zartbesaitet ist, musste ihm sein Kollege Otto Wiesheu zeigen, was so ein richtiger bayerischer Bulldozer ist. Wiesheu wurde durch ständige Zwischenrufe des Grünen-Fraktionschefs Sepp Dürr gereizt und erreichte blitzartig seinen Siedepunkt. ‚Mei, da muss ma doch a bissl leer sein im Kopf, wenn ma so a dusseliges Zeug daherredt’, blaffte der Minister. Als Dürr keine Ruhe gab, äffte ihn Wiesheu vom Rednerpult aus nach. ‚Bähbähbäh’, keifte der Minister in Xanthippen-Tonlage.“ Gute Argumente sind schon was wert.

Virtuelles Weihnachtskrächlein

Nicht immer läuft es so unterhaltsam. Obwohl der erfahrene CSU-Kollege Freller damals auf der Weihnachtsfeier am Abend vorher, als die Stimmung noch völlig ungetrübt war, warnte: In den zwanzig Jahren, die er im Landtag sei, habe es siebzehn Weihnachtskräche im Plenum gegeben. Das war, wie gesagt, kurz vor dem 18. Krach. Damals hat sich die Regel noch mal bewahrheitet. Seitdem sind schon etliche Male beste Gelegenheiten für eine zünftige verbale Rauferei ausgelassen worden. Heuer beispielsweise hatte der CSU-Fraktionsvorsitzende scheinbar alles auf Eskalation angelegt, er hat Fakten verdreht, aufgehetzt und uns Grüne kräftig beschimpft und übel beleidigen und bedrohen lassen – aber alles rein virtuell, nur auf der CSU-Facebook-Seite. Da hat man dann doch den Unterschied gemerkt zum richtigen Leben und einer realen Plenardebatte. Wegen solcher Halbstarker ist der Weihnachtskrach grundsätzlich in Gefahr, ein zahnloser Tiger wie der „Mythos Kreuth“ zu werden: Jedes Jahr vorhergesagt, mit allzu großen, aus einer allzu fernen Vergangenheit gespeisten Erwartungen auf Hauen und Stechen, Krach und Streit. Aber am Ende mehr zitiert als passiert.

Die Ausschreitungen in Dortmund und anderswo haben mit Fußball nichts, aber auch gar nichts zu tun. Gewalt ist eben kein originäres Problem des Fußballs. Da läuft in unserer Gesellschaft einiges schief, wenn Tausende meinen, dass sie ihr Alltagsleben nur noch mit Gewaltexzessen überhöhen können. Feierabend-Machos suchen sich eine öffentliche Bühne, um ihrem Leben einen Kick und anderen einen Fußtritt zu geben. Ihre klägliche Selbstdarstellung will die größtmögliche Aufmerksamkeit und die bekommt sie da, wo die Medien sind und die Massen. Es gibt kaum Orte, die mehr im öffentlichen Scheinwerfer stehen. Aber die Gewalt geht nicht vom Fußball aus. Im Gegenteil.

Zivilisation heißt gewaltfreier Interessensausgleich

Der Soziologe Norbert Elias hat sich sein Leben lang mit Zivilisationsprozessen beschäftigt. Das Schlüsselproblem sei die Frage, sagt Elias, wie Menschen ihre elementaren Bedürfnisse im Zusammenleben mit einander befriedigen können, „ohne dass die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse des einen Menschen oder der einen Gruppe von Menschen auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung eines anderen oder einer anderen Gruppe geht“. Das ist natürlich die zentrale globale Frage heute. Wir sind noch weit entfernt von einem zivilisierten Wirtschaftssystem. Unseres lebt ja gerade davon, Kosten auf andere und insbesondere auf die Zukunft zu verschieben. Elias zählt eine zunehmende Demokratisierung zu den Elementen eines Zivilisationsprozesses. Und dazu kommt noch das, was er „Pazifizierung“ nennt: die Fähigkeit, gesellschaftliche Konflikte zivil und nach Regeln auszutragen. Als Beispiel dafür nennt er ein parlamentarisches Regierungssystem: das erfordere einen hohen Grad an Selbstkontrolle. Nur diese Selbstkontrolle hindere „alle beteiligten Individuen daran, Gegner mit Gewaltmitteln zu bekämpfen oder die Regeln des parlamentarischen Spiels zu verletzen“. Schlägereien im Parlament gibt es nicht mal in Bayern.

Fußball als zivilisatorisches Projekt

Elias zieht dabei Parallelen zum Fußball: „Ein parlamentarisches Mehrparteiensystem ähnelt in dieser Hinsicht einem Fußballspiel: Es wird gekämpft, aber nach strikten Regeln, deren Beachtung ebenfalls ein hohes Maß an Selbstzucht verlangt. Wenn der Kampf zu hitzig wird, wenn sich das Fußballspiel in eine vergleichsweise regellose Keilerei verwandelt, hört es auf, ein Fußballspiel zu sein.“ Leidenschaft und Kampfgeist gehören zum Fußball wie zur Politik. Für mich gehört auch dazu, dass man die Grenzen der Regeln auslotet und sich vielleicht sogar mal hinreißen lässt, sie zu überschreiten. Aber das Spiel macht nur Spaß, wenn man die Regeln grundsätzlich anerkennt und wenn Verstöße geahndet werden. So sehr Leidenschaft und Kampfgeist zum Fußball gehören, Gewalt gehört eben ganz und gar nicht dazu. Fußball ist ein ziviles und zivilisierendes Projekt.

Gewalt zerstört Zivilisation und damit den Fußball selber

Wenn es bei Fußballspielen zu Gewaltausschreitungen kommt, geschieht das genau aus diesem Grund. Fußball ist geradezu ein Symbol und eine rituelle Feier errungener Zivilisation. Er zelebriert die körperbetonte Auseinandersetzung zweier Gruppen nach Regeln und ohne Gewalttätigkeiten. Dieses Ritual, das unsere Gesellschaft verbindet, wird von den Gewalttätern absichtlich dementiert. Sie brauchen deshalb den Vorwand gegnerischer Fans häufig nicht mehr, sondern gehen gezielt gegen die Polizei vor. Denn die verkörpert das staatliche Gewaltmonopol und gleichzeitig die Gewaltfreiheit der Gesellschaft. Organisierte Schläger wählen den Fußball gerade wegen seiner Friedfertigkeit und Zivilisiertheit. Sogenannte Hooligans sind keine Fans. Sie attackieren das, wofür der Fußball steht.

Am 25. September zu später Stunde habe ich die Kritik an der Debattenkultur im Bayerischen Landtag durch die Parlamentspräsidentin Barbara Stamm vehement zurückgewiesen. Klartext ab Minute 1:50. http://www.youtube.com/watch?v=gzHLWi8QcnQ&feature=plcp

Wer sich entschuldigt, bestätigt falsche Erwartungen

Warum rege ich mich da künstlich auf? Die Landtagspräsidentin hatte die Kritik eines pensionierten Polizeilehrers am Stil der Landtagsdebatten aufgegriffen. In einem Interview in der Süddeutschen Zeitung und einem Brief an die Abgeordneten hat sie versucht, uns Abgeordnete zu schulmeistern. Besuchergruppen und FernsehzuschauerInnen sind immer wieder verstört, weil sich die Abgeordneten nicht so verhalten, wie sie das erwarten. Aber wir Abgeordneten sollten uns nicht dauernd dafür entschuldigen, dass wir falschen Erwartungen nicht entsprechen, sondern lieber für mehr Demokratieverständnis und Wissen über Politik werben.

Die Illusion vom „herrschaftsfreien Diskurs“

Es gibt in der Politik keinen „herrschaftsfreien Diskurs“. Das ist ein Widerspruch in sich. Um einen demokratischen Debattenstil muss man beständig kämpfen. Wenn die Präsidentin die Protestformen der Opposition beschneiden will, riecht das ganz danach, als wolle sie uns den Schneid abkaufen. Denn das ganze Setting des Parlaments ist davon gekennzeichnet, dass hier die Mehrheit gegen die Minderheit, die Mächtigen gegen die ohne Macht stehen. Die Regierung redet so lange sie will und wann sie will. Deshalb gibt es ergänzend zu den beschränkten Redezeiten für die Abgeordneten das parlamentarische Recht auf Zwischenbemerkungen und das Recht des Zwischenrufs. Wer die schiere Übermacht geduldig über sich ergehen lässt, muss erst noch gefunden werden. Aber im Parlament hat er nichts zu suchen.