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Ich kann das Geschwätz nicht mehr hören, dass ein ökologisches Leben nur was für Besserverdienende wäre. Dabei ist mir egal, für wie empathisch und fürsorglich es sich hält. Am Wochenende hat Sophie Passmann in einem SZ-Interview – https://www.sueddeutsche.de/leben/sophie-passmann-interview-feminismus-selbsthass-1.5224512?reduced=true – behauptet, sie kenne „sehr viele Leute, die sich das niemals leisten können“. Umso schlimmer! kann ich da nur sagen. Statt Kritik daran zu üben, dass sich Arme angeblich nur vermeintliches Billigfleisch leisten können, wertet Frau Passmann Bio als „Lifestyle“ ab: „Das ist ja wohl das Mindeste, das man hin und wieder an der Kasse des Biosupermarkts steht und darüber nachdenkt, welche irren Summen man für vernünftiges Essen ausgeben kann.“ Geschwätz bleibt Geschwätz, auch wenn es selbstkritisch daherkommt.

Die Armen weiter „billig“ abzuspeisen ist keine Alternative

Es sind zwei Fragen, die hier sinnlos miteinander verknüpft und deshalb beide nicht gelöst werden können: Wie können wir Lebensmittel so produzieren, dass ihre Erzeugung nicht klima- und umweltschädlich wirkt? Die zweite Frage lautet, wie wir Armen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Sophie Passmann spottet über „irgendein Schmorfleisch für ein halbes Monatsgehalt“. Öko-Konsum sei „eine Frage der finanziellen Mittel, schließlich wird seit Jahren darüber gestritten, wie korrekt man eigentlich konsumieren kann, wenn man wenig Geld hat“. Aber die Alternative kann doch nicht sein, die Armen weiter abzuspeisen mit politisch subventionierten Lebensmitteln, deren Kosten auf die Allgemeinheit und die Zukunft abgewälzt werden, mit verheerenden Folgen für Tiere, Umwelt und Klima.

Teure tierquälerische, umweltzerstörende Lebensmittelproduktion

Das Gezeter darüber, wie teuer etwa ökologische Ernährung für einzelne sei – ja geradezu unbezahlbar –, ignoriert völlig, um wieviel teurer, ja geradezu unbezahlbar die bisher dominante, tierquälerische, klima- und umweltzerstörende Lebensmittelproduktion für uns alle ist und erst recht wird. Gezeter ändert gar nix. Es ist in dem Sinne unpolitisch, insofern es vielleicht dem einzelnen hilft, Dampf abzulassen, aber alles beim Alten belässt: Die Armen bleiben arm, die Tiere und die Umwelt leiden, Frau Passmann behält ihre Privilegien, aber fühlt sich deshalb noch nicht besser. Natürlich hat Sophie Passmann damit Recht, dass es keinen Grund gibt, sich wegen eigener Privilegien und Möglichkeiten für was Besseres zu halten. Aber das heißt doch in erster Linie, dass Moral eben keine brauchbare Kategorie der Politik ist: https://seppsblog.net/2019/12/28/entpolitisierungsstrategien-individualisieren-moralisieren-immunisieren/. Bio ist keine Frage der Moral oder des Lifestyles, von „gut“ oder „böse“ oder „besser zu sein“, sondern darum, ob ein Verhalten, eine Alternative, eine politische Tat richtig oder falsch ist, z.B. im Hinblick auf Klima- oder Tierschutz. Darüber – und vor allem über die zugrundeliegenden Kriterien – lässt sich diskutieren und muss diskutiert werden.

Lob für das Bemühen, das Richtige zu tun

Völlig daneben ist es, Besserverdienenden vorzuhalten, sie würden sich ja nur bio ernähren, um sich von anderen abzuheben. Denn zunächst mal tun sie – im Unterschied zu den anderen Besserverdienenden, die das nicht machen – das Richtige; und da kann es uns allen erst mal egal sein, warum sie das tun. Mir wär recht, wenn alle Besserverdienenden sich darin übertrumpfen wollten, wer sich am ökologischsten ernährt und am klimaverträglichsten lebt, statt wer das exklusivste Auto fährt und sich den größten Spritfresser leisten kann. „Entscheidend ist, dass wir nicht moralisieren, sondern politisch Kritik üben, also nicht die einzelnen mit Schuldvorwürfen und Rechtfertigungszwang isolieren, sondern nach politischen und ökonomischen Zusammenhängen und Alternativen suchen“: https://seppsblog.net/2014/03/14/recht-auf-ein-gutes-leben/. Auch Arme leben auf unserem Planeten. Wer Bioprodukte als für sie unerschwinglich hinstellt, statt nach Wegen zu suchen, wie die beiden Fragen nach einem guten und menschenwürdigen Leben für alle zufriedenstellend beantwortet werden können, trägt dazu bei, dass der Planet weiter verwüstet und für sie noch unbewohnbarer wird.

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Zum Jahresausklang bekommen wir regelmäßig und meist unverlangt eine gehörige Portion politischer Moralisiererei. In jüngster Zeit ist die vermeintliche ökologische Scheinheiligkeit der Menschen eines der Lieblingsthemen nicht nur der Predigten des Feuilletons, sondern auch in den Wirtschaftsseiten. „Trotz mieser Öko-Bilanz wurden 2019 so viele SUVs verkauft wie nie“, macht die SZ ihre Titelseite auf – https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zipse-bmw-suv-umwelt-klima-1.4737399 („Auf großer Fahrt“, 28.12.2019): „Das Jahr 2019 war geprägt vom Klimaschutz, vom Nachdenken über Ressourcen und der Debatte um nachhaltigeres Vorankommen per Bahn, Flugzeug und Auto. Im täglichen Handeln war davon aber nichts mehr zu spüren, wie sich nicht nur bei weitgehend gleichbleibenden Passagierzahlen im Flugverkehr zeigt: 1,08 Millionen SUVs und Geländewagen, so viele wie noch nie, wurden bis November hierzulande verkauft“. Die SZ beginnt dann gleich mit der Suche, warum diese beiden Entwicklungen, also mehr ökologisches Bewusstsein und zunehmende Klimazerstörung, sich zwar jeweils beschleunigen, aber so gar nicht zusammenpassen.

Fetisch „kognitive Dissonanz“

Schuld waren natürlich die Verbraucherinnen und Verbrauchern: „80 Prozent der Deutschen befürworten Klimaschutz und wollten weniger Ressourcen verbrauchen“. „Wieso aber liegt dann die durchschnittliche PS-Zahl bei 170?“, fragt der Soziologe Stephan Rammler, gibt aber keine Antwort. Dafür kommentiert er überlegen: „Das ist verlogen, eine kognitive Dissonanz.“ Immerhin hat er ein paar Hinweise, woher diese Dissonanz kommen könnte. Zum einen verweist er darauf, dass diese Fahrzeuge „funktional nicht mehr angemessen sind“, es muss also andere Gründe geben, warum sie „größer werden“. Zum anderen führe die wachsende Größe „nachweislich zu aggressiverem Fahren und dadurch bei den anderen zu mehr Unsicherheitsgefühl“ und zu einer „Spirale der Aufrüstung“ und einer zunehmenden Gefährdung der „ohnehin schwächsten Verkehrsteilnehmer“ wie Radfahrer*innen. Nun haben es Soziolog*innen nicht so gern, dass wir Sterblichen mit der Analyse allein nicht zufrieden sind, sondern handlungsorientiert Politik machen wollen und nach Vorschlägen fragen. Aber auf einen Missstand lediglich hinzuweisen und dann gar noch zu moralisieren, führt zu Zynismus und Stagnation, weil es den Weg zu Alternativen verschließt.

Moral ersetzt keine Analyse

Ein moralisches Urteil, das einer Entscheidung und damit denen, die entscheiden, lautere Grundlagen abspricht, öffnet die Kluft zwischen Kritik und Handeln weiter, statt diese verringernde Brücken zu bauen. Wenigstens verweist der Artikel selber direkt und indirekt auf nachvollziehbare Ursachen für den Boom der SUVs. Denn die Entwicklung ist „gut für die Autohersteller: Viele Kunden finden Größe attraktiv, das treibt die Preise nach oben“. „High-End-SUVs liefern wichtige Gewinne, die in einer Zeit der Transformation hin zur E-Mobilität dringend gebraucht werden“, sagt der „Autoforscher“ Ferdinand Dudenhöffer. Nun werden Gewinne im Kapitalismus ja immer „dringend gebraucht“, aber das Stichwort „Transformation“ hilft schon mal gegen das von Dudenhöffer ebenfalls benannte „Dilemma“: Denn „gleichzeitig baut sich ein soziales Akzeptanzproblem auf“. Selbst der Opel-Chef ist „kein Freund von ganz großen SUVs, sie kommen kaum in die Parkhäuser, das ist gesellschaftlich nicht mehr vermittelbar“.  Und Dudenhöffer ergänzt: „Für das Platzproblem in den Großstädten fehlt die Lösung“. Aber SUVs sind ja gerade eine Lösung für das Problem, dass viele heute um den Platz, der ihnen ihrer Meinung nach zusteht, kämpfen müssen: Ein SUV verschafft sich und seinem Fahrer oder seiner Fahrerin ordentlich Platz.

Diagnose Verbraucherdilemma verdeckt politisches Versagen

Tim Jackson hat sich in „Wohlstand ohne Wachstum“ mit Geltungskonsum auseinandergesetzt, also damit, wie sehr unsere Konsumbedürfnisse vor allem statusgetrieben sind: https://seppsblog.net/2014/02/11/zwischen-zwangen-und-zielen/. Dass diese Karren was hermachen und ordentlich was verbrauchen an Sprit und Platz, ist in der Konkurrenz um Anerkennung und öffentlichem Raum für diejenigen, die sich mit ihnen sehen lassen, ein Vorteil. Es ist ja nicht der einzige gesellschaftliche Konflikt, bei dem „kognitive Dissonanz“ entsteht, bei dem also das, was einzelne politisch für richtig finden, diametral von dem abweicht, was für sie persönlich Sinn macht. Beispielsweise ist ja schon seit vielen Jahrzehnten klar, dass in der Agrarpolitik das Prinzip „Wachsen oder Weichen“ zwar dem einzelnen Bauern hilft, vorübergehend in der Konkurrenz zu bestehen, aber mittelfristig dazu führt, die Konkurrenz weiter zu verschärfen. Deshalb fordert die staatliche einzelbetriebliche Förderung noch immer Wachstum, obwohl Staat und EU schon längst nicht mehr mit den Überschüssen zurechtkommen. Die vermeintliche „kognitive Dissonanz“ ist lediglich eine Reproduktion einer politischen Schizophrenie. Frei nach Rosa von Praunheim ist nicht die Verbraucher*in pervers, sondern die Gesellschaft, in der sie lebt. Solange es also für die einzelnen rational ist, das gesellschaftlich Falsche zu tun, werden moralische Appelle gar nix bewirken.

Immunisieren statt Diskutieren

Nach der Devise „Wenn schon verbohrt, dann richtig“ haben sich offenbar die Autoideologen die Immunisierung gegen jede Kritik („Das wird man ja noch sagen dürfen“, „Meinungsdiktatur“) von AfD und anderen Rechtspopulisten abgeschaut. Die „Premiumhersteller“, schreibt die SZ (mit Kotau vor dem Geltungskonsum), „gehen in die Vorwärtsverteidigung. ‚Die hämische SUV-Debatte ist Panikmache, die nichts mit der Realität zu tun hat“, sagt der BMW-Chef: „In solchen Wagen säßen ‚ganz normale Leute‘ die damit zum Beispiel ihre Kinder sicher zum Sport bringen wollten. Und die wolle er auch nicht umerziehen: ‚Wahlfreiheit ist das Grundprinzip einer Marktwirtschaft‘.“ Kritik am klimaschädlichen Verkaufsprinzip wäre demnach also per se ideologisch und ein Angriff gegen die „Wahlfreiheit“. An solchen Beispielen sieht man, dass der Kampf gegen den Klima- und für einen Kulturwandel erst begonnen hat, aber bereits mit härtesten Bandagen geführt wird. Eine der üblen Maschen, mit denen eine offene, eine politische Debatte verhindert werden soll, ist die Entpolitisierung: Individualisieren von gesellschaftlichen Konflikten, Moralisieren und Immunisieren.

„Alles könnte anders sein“. Wie viele phantasiebegabte und kritische Geister vor ihm, seit den ersten Philosophen und Künstlerinnen und Künstlern im antiken Griechenland bis heute, erklärt jetzt Harald Welzer in seinem gleichnamigen jüngsten Werk: „Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen.“ Ganz in der guten alten Tradition der Aufklärung versucht er zu zeigen, dass die Verhältnisse, die uns umgeben, eine Geschichte haben, also menschengemacht sind und deshalb für uns veränderbar nach unseren Vorstellungen. Damit hat Welzer wieder einmal ein in vielem sehr anregendes und weiterführendes Buch vorgelegt: „Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“. Schon in Büchern wie „Selbst denken“ arbeitete er heraus, wie soziale Veränderungen funktionieren und wo Hebel dafür sein könnten. Gleichzeitig kritisierte er die Ökologiebewegung und insbesondere die Grüne Partei scharf und gerierte sich selber als der einzig wahre Grüne: https://seppsblog.net/2013/07/26/harald-welzer-der-wahrste-grune/.

Zynismus, nein danke!

Wir leben in postmodernen, also mehrfach gebrochenen, bis zum Überdruss selbstreflexiven und oft selbstgefälligen Zeiten. Welzer weiß sehr gut, dass wir dank eines vorherrschenden „zynischen Bewusstseins“ mit Schizophrenie-ähnlichen Zuständen zurechtkommen müssen: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird, ja, in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß.“ Deshalb drängt er von der Theorie zur Praxis, hin zu konkretem Handeln. „Vielleicht wäre es einfach besser, statt noch mehr Information und Wissen anzubieten, mal darüber nachzudenken, wo denn wohl Veränderungsbereitschaften zu finden sind – im Wissen liegen sie nämlich nicht. Solche Bereitschaften müssen in der Lebenswelt der Menschen existieren und eine Rolle spielen“: „Wenn jemand sich also auf den Weg zu einer Veränderung machen soll, muss das ganz einfach mit ihr oder ihm zu tun haben, sonst kann man auf sie oder ihn einreden wie auf ein totes Pferd. Vor allem aber muss es interessant sein.“ Da lässt der postmoderne, auf Fun und Entertainment ausgerichtete Lifestyle schon mal grüßen. Ohne positive Beimengung, nur mit Askese ist heute kein Blumentopf zu gewinnen.

Man kann ja doch was machen!

Aber, darauf legt Welzer besonderen Wert, es gibt was zu gewinnen. Es lohnt sich, etwas zu tun! Entscheidend sei, „einen Unterschied machen zu wollen. Es ist immer so leicht, sich selbst davon zu überzeugen, dass man sowieso nichts machen kann, dass man ohnmächtig, inkompetent, unmaßgeblich ist, dass es einen nichts angeht, oder was auch immer, und weil das so leicht ist, ist es immer sehr wahrscheinlich, dass sehr viele gar nichts machen und allenfalls ein schlechtes Gewissen haben, weil sie nichts machen. Und genau deshalb ist es auch so unwahrscheinlich und zugleich so wichtig, dass es eine oder einen gibt, die eben doch den Unterschied machen, indem sie was machen.“ Damit ist Welzer dann voll auf der Höhe der Zeit. Denn die Menschen, die einen Unterschied machen wollen, werden in diesen Wochen spürbar und täglich mehr. Nicht auf der Höhe der Zeit ist er allerdings insofern, als er nach wie vor mit praktischer Politik nicht wirklich etwas anfangen kann und seinen schon vor Jahren beobachteten Trend zur Entpolitisierung fortsetzt. Die Zivilgesellschaft, die Gemeinwohlökonomie, die Kunst, jede und jeder hat einen wertvollen Beitrag zu leisten für Welzers Utopie. Nur die Politik bleibt seltsam außen vor.

Grün sind beautiful people

Aber das ist insofern halb so wild, weil ihm dort, wo er auf der Höhe der Zeit ist, längst die Politik, nämlich die grüne Politik von vorne entgegenkommt. Welzer will „kein Gerede mehr vom Weltuntergang, vom Anthropozän, von den irreversiblen Zerstörungen, von den planetaren Grenzen“ hören. Er verlangt „kreative Formen des Protests, Musik, Kleidung, eine Ikonographie der Zukünftigkeit“. Und er beschwört die „Hippie-Bewegung: Utopie muss Spaß machen“. Während Welzer die Grüne Partei nicht mehr kritisiert, sondern nur noch ignoriert, machen die zeitgenössischen Grünen längst Politik nach seinen Vorgaben. Denn „dass Freundlichkeit schön macht, dass also die neuen Utopistinnen und Utopisten die ‚beautiful people‘ werden und die, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, total aus der Mode kommen“, exerzieren sie ihm gerade auf allen Kanälen vor. „Eine soziale Bewegung für eine andere Gesellschaft muss – fast hätte ich gesagt: rocken.“ Wer denkt da nicht an die Baerbocks und Habecks und ihren „neuen Sound des Politischen“ und all die Aktionen, die „sich nach Spaß im Widerstand anfühlen“, so „dass man zu denen gehören will, die diese Utopie zur Wirklichkeit machen“. Bei so viel Überschwang muss ich einfach skeptisch werden. Als meine Generation politisch wurde, sahen die nur ein paar Jahre älteren Hippies schon längst verdammt alt aus.

Die Grünen sind die neue Heimatbewegung. Was in unserer direkten Umgebung geschieht, in unserem konkreten Einflussbereich, stand und steht von Anfang und an bis heute im Mittelpunkt unseres politischen Handelns – in unserem eigenen Interesse wie als Hebel für globale Ziele. In der Frühphase unserer Bewegung war noch direkt spürbar, dass wir eine politische Antwort auf die Globalisierung sind. Damals stand unsere Politik unter Slogans wie: „Global denken, lokal handeln“ oder „Aus der Region, für die Region“. Wir Grünen hatten die weltweiten Folgen unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft im Blick und waren gleichzeitig Teil einer modernen Regionalbewegung. Deshalb habe ich wie einige andere über Jahre versucht, für uns den Heimat-Begriff wieder nutzbar zu machen, z.B. auf unserem Grünen Heimatkongress 2011 in Regensburg: http://www.sepp-duerr.de/?p=1551.

Moderner Heimatbegriff

Mittlerweile wird – wie in der übrigen Gesellschaft – der Heimatbegriff auch bei uns Grünen deutlich unbefangener und häufiger eingesetzt, z.B. auf der Tiroler Alpenraumkonferenz: https://www.gbw.at/oesterreich/artikelansicht/beitrag/konferenzprogramm/. Und das ist auch gut so. Denn „Heimat“ als Konzept ist nicht automatisch nazi-braun oder reaktionär-borniert (http://www.sepp-duerr.de/?p=1545). Daran wurde ich jetzt eben wieder erinnert, durch das jüngste Buch von Naomi Klein „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“. Klein wertet zu Recht rein lokale Widerstandsbewegungen in allen Weltteilen als Anfänge einer unerlässlichen „sozialen Massenbewegung“ für einen „Aufbruch in die neue Zeit“: https://seppsblog.net/2015/08/20/naomi-kleins-kreuzzug-gegen-die-klimakatastrophe/. Darin, in diesen lokalen Initiativen mehr als nur bornierten Egoismus zu erkennen, ist sie nicht die erste und einzige.

Lokale Autonomie

Auch Joachim Radkau bemüht sich in seiner umfassenden Darstellung der Umweltbewegung („Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte“, München 2011) um eine Neuentdeckung und Aufwertung des lokalen und regionalen Widerstandes: „Gerade beim weltweiten Überblick wird deutlich, dass es vielen Umweltbewegungen nicht nur um die Umwelt geht. In typischen Fällen spielt auch der Kampf für lokale Autonomie hinein, nicht nur in der Dritten Welt.“ Es geht immer auch um Selbstbestimmung, um Demokratie. Radkau mahnt deshalb zur „Vorsicht mit dem Ehrgeiz, die ‚wahre‘ Umweltbewegung von ‚unechten‘ Umweltbewegungen abzugrenzen. … Vorsicht auch mit der Manier, all jene Bürgerinitiativen, denen es nur um lokale Eigeninteressen geht, abschätzig als NIMBY-Bewegungen abzustempeln: Nichts ist normaler, als dass bei Bewegungen auch eine Portion Egoismus, ob individuell oder kollektiv mitspielt.“ Dies ist ein ungewohnter Ton für manche Grüne und Grünnahe, aber auch für etliche ihrer Gegner.

Idealismus oder Egoismus?

Denn da haben sich einige angewöhnt, nur uneigennützige Weltverbesserer oder, aus umgekehrter Perspektive, weltfremde „Gutmenschen“ sehen zu wollen, d.h. – ob positiv oder negativ gewertet – von materiellen Interessen Unbefleckte oder Unbeleckte. Dabei, das zeigt Radkau an vielen Stellen seines Überblicks, werden Dynamik, Leidenschaft, ja Liebe zu Natur und Umwelt ja gerade erst durch unmittelbare Interessen und persönliche Erfahrung geweckt: „Populär und konfliktfähig ist die Umweltbewegung nicht zuletzt durch derartige Kämpfe für die elementare Lebensqualität geworden“. Radkau geht aber noch einen Schritt weiter. Er will die „Heimatverbundenheit als emotionale Basis von Umweltbewusstsein“ wieder in ihr Recht setzen. Denn anders als viele glaubten, handle es sich nicht um einen missratenen „deutschen Sonderweg“, sondern „eine für weite Teile der Welt typische Verbindung von Umweltschutz und neuem Regionalismus“.

Ohne Gefühl geht nix: Ohne Emotionen keine Wirkung

„Heimatliebe“, „Liebe zur Natur“, persönliches Involviertsein jeglicher Art, das sind wirksame Antriebe: „Die Chance der Umweltpolitik hängt … auch an der Bereitschaft, sich für die Erhaltung der eigenen unmittelbaren Lebenswelt zu engagieren. Es dürfte kaum je einen Fortschritt der Umweltbewegung zu einem ganz und gar universalistischen Denken geben, das jegliche ‚NIMBY‘-Motive definitiv hinter sich lässt.“ In diesem örtlichen Engagement, in der Anteilnahme daran, was vor unserer Hinter- oder Haustür passiert, steckt eben mehr als nur Eigennutz. Darin findet sich auch der Anspruch auf demokratische Teilhabe und Selbstbestimmung, ein Recht darauf, nicht enteignet und abgehängt zu werden. „Ein zukunftsträchtiger Aspekt der Ökologie besteht nicht zuletzt darin“, meint Radkau, „dass sie dem Recht auf Heimat eine rationale Grundlage gibt.“ Heimat wird zur politischen Aufgabe (http://www.sepp-duerr.de/?p=1060): In der Sehnsucht danach bündeln sich verschiedene Grundbedürfnisse: nach Zugehörigkeit und Sicherheit, nach Mitsprache und Selbstwirksamkeit. Deshalb gehören Heimat und Umweltschutz zusammen. Deshalb sind wir Grünen die zeitgenössische Heimatbewegung.

Manchmal vergeht selbst mir die „Lust auf Politik“. Denn meine Freude an der politischen Arbeit hängt auch daran, dass sie mir nicht völlig vergebens erscheint. Da hilft es, wenn man sich die Ziele nicht zu hoch steckt. Als Provinzpolitiker konzentriere ich mich deshalb meist auf überschaubare Provinzprobleme. Aber es gibt Aufgaben, die man sich nicht sucht, sondern die sich selber unübersehbar und unausweichlich stellen – wie die drohende Klimakatastrophe. Nur als Teil einer weltumspannenden grünen Bewegung bleibt man da nicht ohnmächtig und aussichtslos. Aber so viel sich weltweit auch bewegt, es wirkt längst nicht wie eine Bewegung: Die unzähligen verstreuten Initiativen erfahren sich weder praktisch noch theoretisch als Einheit, ja noch nicht mal als von verschiedenen Seiten aus an ein und derselben Aufgabe Arbeitende. Im Gegenteil tendieren Aktive dazu, in ihrem Selbstverständnis das Trennende hervorzuheben: Ohne Abgrenzung scheint keine Standort- und Aufgabenbestimmung möglich. Ein Beispiel dafür ist „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“ von Naomi Klein.

Klimaklassenkampf, Katastrophismus und Kollektivschuld

Dieser Versuch, alte Orientierungsmuster zu reaktivieren, wirkt seltsam aus der Zeit gefallen: Klein bläst zum Klassenkampf und rasselt wieder mit den Ketten, aus denen uns zu befreien nur Erkenntnis helfe. Sie ruft nach den alten Frontstellungen, kann aber – was Wunder – nicht benennen, wo die Linie zu ziehen wäre. So bleiben als diffuse Feindbilder nur die „Fossilindustrie“ und „unsere politische Klasse“. Klein kritisiert mit Recht, „dass unsere Politiker (und Führungskräfte) bislang nichts gegen eine drohende Klimakatastrophe unternommen haben“. Aber gleichzeitig kritisiert sie dafür auch „uns alle“ – ohne dass sie genau benennen könnte, was „wir alle“ falsch machen. Ausgerechnet sie lässt den Konsum als Treibriemen des kapitalistischen Verwertungszwangs außen vor. Sie zitiert sogar Tim Jacksons Wachstumskritik, aber ignoriert die Verbindung zur Konsumkritik. Profitinteressen erkennt sie nur im Hinblick auf die Konzerne, nicht aber darauf, dass sich so gut wie alle Mitglieder kapitalistischer Gesellschaften deren Gesetzmäßigkeiten ebenso sehr freiwillig unterwerfen wie sie unterworfen werden. Deshalb bleibt ihre pauschale Schuldzuweisung an „uns alle“ rein äußerlich und unfruchtbar.

Kleins kluges Lob des Sankt-Florians-Prinzip

Positiv ist ihr auf jeden Fall anzurechnen, dass sie auch die Teile einer globalen grünen Bewegung würdigt, die meist missachtet werden. Sie findet Widerstand in allen Weltteilen und darin die Anfänge einer unerlässlichen „sozialen Massenbewegung“ für einen „Aufbruch in die neue Zeit“. In rein lokalen Widerstandsbewegungen, die andere als Ausdruck bornierten Egoismus von „Wutbürgern“ oder „Nimbys“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Nimby: „Not In My Back Yard (Nicht in meinem Hinterhof). Der entsprechende deutsche Ausdruck lautet Sankt-Florians-Prinzip“) diffamieren, entdeckt sie „ein globales Basisnetzwerk gegen hochristkante extreme Formen der Rohstoffförderung“: „Ob nun der Klimawandel das Hauptmotiv dabei war oder nicht, den lokalen Bewegungen gebührt jedenfalls Lob als CO²-Verhinderer, denn indem sie ihre geliebten Wälder, Berge, Flüsse und Küsten schützen, helfen sie mit, uns alle zu schützen.“ Egoistisch oder nicht, auf jeden Fall verhindern solche lokale Widerstände, dass vorschnell Fakten geschaffen werden und eröffnen Diskussionsräume für eine öffentliche Abwägung widerstreitender Interessen.

Jeder kann sein Scherflein beitragen

Naomi Klein hat ein voluminöses Werk vorgelegt, in dem sie erst mal alle Ansätze und Anstrengungen vor den ihren als gescheitert verwirft und einen beeindruckenden Berg des Versagens vor uns auftürmt: eine Abraumhalde des Scheiterns, Ergebnis von „Jahrzehnten grüner Kumpanei“. Mit ihren eigenen Vorschlägen aber bleibt sie merkwürdig mechanisch und an der Oberfläche, buchstäblich an der Peripherie. Auch wenn der Waschzettel schreit: „Das Manifest der Klimabewegung. Es hat die Kraft, die dringend notwendigen Massen zu mobilisieren, um unseren Planeten zu retten“ und in Großbuchstaben behauptet: „DIESES BUCH ÄNDERT ALLES“, sagt der Spiegel-Bestseller 2015 selber leider nicht, wie.

Ich will nicht denselben Fehler wie sie und sie nur schlecht machen. Denn ich meine, dass jeder Beitrag zählt, sei er noch so klein und scheinbar verschroben. Eine andere Prämisse bleibt mir ja auch gar nicht übrig, wenn ich nicht an der Beschränktheit meiner eigenen bescheidenen Anstrengungen verzweifeln, sondern weiter Lust auf Politik haben will.

Wir leben in einem grünen Jahrhundert: Mit den Frage- und Problemstellungen, die wir Grünen in den letzten Jahrzehnten aufgeworfen haben, müssen sich heute alle auseinandersetzen und wenigstens so tun, als suchten sie nach Antworten. Aber konkret, vor allem verglichen mit der Größe unserer Aufgaben, geht viel zu wenig voran. Deshalb suchen heute viele Grüne nach neuen Wegen, so z.B. http://www.gbw.at/neuespurenlegen/. Sie gehen einen Schritt zurück, holen weiter aus, greifen auf älteste und neueste Erkenntnisse zurück, bis hin zur Hirn-, Verhaltens- oder Glücksforschung. Die Modalitäten des (verhinderten) Wandels geraten in den Blick. Die grüne Bewegung steckt in einer Phase der Neuorientierung, vermutlich gerade deshalb weil wir jetzt in einem grünen Jahrhundert leben.

Das „gute“ Leben oder das „richtige“?

Während manche nach einem alternativem BIP, einem neuen und besseren Maßstab fürs Wohlergehen suchen, halten andere die Orientierung am „pursuit of happiness“ für eine Sackgasse. So strittig wie die Frage, ob es um das „gute Leben“ gehen kann, ist die Frage, ob es um das „richtige Leben“ gehen darf. „Seit Kant gilt als ausgemacht, dass sich Glück oder das gute Leben im Gegensatz zum moralisch Richtigen philosophisch nicht bestimmen lassen“, schreibt die Philosophin Rahel Jaeggi in ihrer „Kritik von Lebensformen“: „Die Philosophie zieht sich damit von der sokratischen Frage, ‚wie zu leben sei‘, zurück und beschränkt sich auf das Problem, wie angesichts der Vielzahl miteinander inkommensurabler Vorstellungen des guten Lebens ein gerechtes Zusammenleben als Nebeneinander verschiedener Lebensformen gesichert werden kann.“ Jaeggi greift diese Frage neu auf, nämlich nicht als Frage von Gut und Böse, sondern von Gelingen und Scheitern, und damit – von Richtig und Falsch.

Keine Selbstverständlichkeiten

Dazu setzt Jaeggi die kritische Philosophie wieder in Kraft: Kritik bedeutet Freiheit. Zumindest für die, die an den derzeitigen Verhältnissen kein alles dominierendes Interesse haben. Die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse geben sich – so ein in der europäischen Aufklärungstradition tief verwurzelter revolutionärer Verdacht – einen quasi naturalisierten, „naturwüchsigen“ Anschein, um Veränderungen des Status quo zu Ungunsten der derzeit von ihnen Profitierenden zu erschweren. Noch früher wollte man uns glauben machen, diese Verhältnisse seien gar gottgewollt. Dagegen bleibt jemandem wie uns, die wir Veränderungen umsetzen wollen, gar nichts anderes übrig, als diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu historisieren, also darzulegen, dass sie sich unter bestimmten Voraussetzungen durchgesetzt haben, bestimmten Interessen mehr dienen als anderen, aber dass das nicht so bleiben muss bzw. in unserem Fall keinesfalls so bleiben kann. Wir müssen also die „hergebrachten“ Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. Aber mindestens so wichtig ist es, gleichzeitig neue Selbstverständlichkeiten zu schaffen.

Umwertung alter Werte

Denn eine solche Umwertung alter Werte kann, das weiß, wer es schon mal krisenhaft erlebt hat, eine so aufregende wie entnervende Erfahrung sein. Es ist auch schrecklich, wenn alles in Frage gestellt wird, noch schrecklicher sind die, die einem das aufzwingen. Damit, Sicherheiten zu rauben in einer Zeit, in der sie so sehnlich verlangt werden, gewinnt man keine Menschen. Die tägliche Erfahrung stellt für viele ja ohnehin schon allzu häufig Verlässliches in Frage: Wissen und Fähigkeiten werden in enormer Geschwindigkeit entwertet, Aufgaben wie Stellen fallen ersatzlos weg, selbst die Körper müssen beständig retuschiert und operativ korrigiert werden. Weil wir Grünen bei der Bundestagswahl nur dazu beitrugen, die vorherrschende Orientierungslosigkeit zu verstärken – ohne gleichzeitig neue (oder alte) Orientierung anzubieten wie der erfolgreiche Ministerpräsident Kretschmann –, sind wir weit hinter Erwartungen und Möglichkeiten geblieben.

Rückversicherung und Rückfälle

Wenn alle Selbstverständlichkeiten und entlastende Routinen in Frage stehen, wird der Alltag für uns unerträglich. Deshalb müssen wir uns in unserer Kritik auf das Nötigste konzentrieren, Rückversicherungsangebote und einfache Handlungsoptionen bieten. „Nicht alles anders, aber vieles besser zu machen“, hieß mal ein damals erfolgreiches Versprechen. Aber auch so wird es schon schwer genug, denn jede Infragestellung oder Umdeutung steht sofort unter Manipulationsverdacht und unter dem Vorwurf „politischer Paternalismus“. Das gilt umso mehr, als jetzt selbst Regierungen Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung einsetzen, wie etwa „Anstubsen“ (nudges), also Lenkungstricks aus der Werbewirtschaft. Aus dieser Falle hilft nur Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung: Während bisher stillschweigend eine falsche Praxis bevorzugt wurde, soll jetzt die richtige begünstigt werden – und zwar explizit und in aller Offenheit. Welche Praxis aber richtig oder falsch ist, darüber kann und muss gesprochen werden.

Wir Grünen sollen uns doch lieber um „grüne Themen“ kümmern. Diesen wohlmeinenden Rat bekommen wir immer dann, wenn wir mit unserer Gesellschaftspolitik anecken und aus dem Mainstream fallen. Vor allem Konservative, die mit uns sympathisieren, bekunden ihre Sorge, wir könnten Leute verprellen, die für ökologische Politik inzwischen ja so aufgeschlossen seien. Da frag ich mich natürlich zum einen, in wessen Namen diese Kritik vorgetragen wird. Und zum anderen, warum unsere ökologischen Argumente und unsere diesbezügliche Überzeugungskraft auf diejenigen schwächer werden sollen, die mit uns doch angeblich „nur“ in der Gesellschaftspolitik im Clinch liegen. Offenbar gibt es da doch einen substantiellen Zusammenhang etwa zwischen unserer Gesellschafts- und Klimapolitik, der gerade dann sichtbar wird, wenn er geleugnet werden soll.

Zwei Hälften oder zwei Seiten?

Was wir Grünen seit jeher als zwei Seiten einer einzigen Modernisierungspolitik sehen, einer sowohl ökologischen wie gesellschaftspolitischen, wurden früher auch von unseren Gegnern en block betrachtet und pauschal als spinnerte Ideen verworfen. Heute hätten manche gern zwei separierbare Hälften: So als könne man unsere weltoffene, emanzipatorische Gesellschaftspolitik einfach wie eine faule Hälfte wegschneiden und danach die überbleibende, für Konservative scheinbar leichter bekömmliche Kost von der „Bewahrung der Schöpfung“ gustieren. Interessant ist dabei nicht zuletzt, mit welcher Heftigkeit da oft unsere gesellschaftspolitische Hälfte ausradiert werden soll. Früher hat sich eine solche Vehemenz gern an Claudia Roth festgemacht. Wir „guten“ Grünen, gab man uns aus CSU-Kreisen zu verstehen, sollten uns von dieser Art von Politik nur deutlich genug distanzieren, dann würde man uns schon liebhaben. Wo wir doch sonst so wertvolle Ideen und Konzepte hätten.

Grüne Selbstbeschränkung: Bitte kein Gedöns!

In ähnlicher Art richten sich solche Ermahnungen immer mal wieder auch an mich, ich möge doch von bestimmten Fragen die Finger lassen. Die Wohlmeinenderen verbinden sie in der Regel mit Lob für meine übrige Arbeit und der Bitte, ich möge mich doch um die wirklich wichtigen Themen kümmern, statt um echte Nazis oder falsche Trümmerfrauen. Warum sind manchen Leuten angeblich unbedeutende Fragen so wichtig, dass sie mich ermahnen? Da geht es um Gewichtung und damit um die politische Ausrichtung grüner Politik. Etwa in der Art, mit der mal unser gerade ins Amt gepurzelter Miesbacher Landrat zugespitzt und selbstzufrieden behauptet hat, wir bräuchten mehr Kretschmann und weniger Trittin. Das sollte wohl heißen: mehr pragmatisches und weniger ideologisches Handeln und Reden. Aber vielleicht auch: mehr bewahrende Umwelt- und weniger beunruhigende Gesellschaftspolitik. Ich war mir schon damals, als die Flügel noch was bedeuteten, sicher, dass wir beides brauchen, das pragmatische Handeln und das vorausschauende Kritische, dass wir also Realos und Fundis sein müssen, je nachdem, was gerade am vielversprechendsten ist.

Antworten auf Probleme der Globalisierung

Nur auf einem Bein können wir nicht stehen. Wir wären gar nicht mehr wahrnehmbar als Grüne. Mehr noch: das eine wird ohne das andere gar nicht funktionieren, d.h. nur wenn wir beim situativen Handeln einigermaßen Kurs halten und wissen, wohin wir wollen, werden wir auf Dauer erfolgreich sein – und umgekehrt. Sowohl die gesellschaftspolitischen Fragen, mit denen wir angeblich die „Bevölkerung gegen uns aufbringen“, wie unsere ökologischen Interventionen verdanken sich derselben Ausgangslage, nämlich den großen Veränderungen der Globalisierung. Teile der Menschheit sind heute in der Lage und bereits dabei, den Planeten zu Lasten aller zu ruinieren bzw. die Lebensbedingungen auf einem Großteil der Erde sowie für die Künftigen drastisch zu verschlechtern. Darauf müssen wir einerseits zeitgemäße, also die Globalisierung gestaltende Antworten finden – zeitgemäß im Unterschied und sogar gegen die gängige populistische, aber hilflose Politik des Abschottens, Kopf-in-den-Sand-Steckens, Privilegien-Verteidigens, Unrecht-Leugnens, kurz eines globalen, europäischen oder bayerischen insularen Egoismus.

Ökologische Fragen sind Gerechtigkeitsfragen

Damit ist andererseits klar, dass mögliche Antworten zusammenhängen: Hoffen wir darauf, die Privilegien von vergleichsweise Wenigen verteidigen zu können, oder treten wir für die Rechte der Vielen ein? Wie schaffen wir einen Ausgleich? Die großen ökologischen Fragen werden wir nicht lösen, wenn wir uns nicht mit den ungelösten Gerechtigkeitsproblemen sowie den Forderungen nach global geltenden Menschenrechten befassen. Dazu gehört dann die Anerkennung gleichwertiger Ansprüche (Minimumstandards, ökologischer Fußabdruck, Wirtschaften auf Pump etc.). Die wiederum setzt voraus, dass wir uns auch mit dem real existierenden Rassismus und seiner hiesigen Vorgeschichte, der Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen. Gleichzeitig bedeutet das, wie schon seit unseren Anfängen als Partei, radikale Gerechtigkeitsfragen zu stellen und uns nicht mit scheinbar bequemen Antworten abspeisen zu lassen. Das ist schwierig und oft unangenehm, weil wir da immer wieder anecken müssen, und dabei haben wir es doch gern auch mal gemütlich. Aber damit die Welt insgesamt ein wirklich gemütlicher Ort wird, müssen wir noch sehr viel streiten, fürchte ich.

Eine Kritik der kapitalistischen Konsumgesellschaft und die Suche nach dem guten Leben findet man derzeit an Orten, an denen man gar nicht sucht. Nur zwei Beispiele von vielen: Am Wochenende konnte man die „Wirtschaftswoche“, das Hochglanzmagazin für das einfache Besserverdienergemüt, auch von hinten lesen: An das übliche Format waren seitenverkehrt noch ein paar Blätter „Green Economy“ angeheftet, über „Klimakiller“ und „Ökologische Investments“. Und der österreichische Standard stellte einen Teil seiner Samstagsausgabe unter die Rubrik „Ökostandard“. Zusätzlich brachte er auf Seite Zwei das „Thema Share-Economy“: „Teilen ist das neue Besitzen“. Vielleicht ist das typisch für die derzeitige Lage. Der Mainstream fließt kräftig weiter, aber daneben oder dahinter tröpfelt noch ein kleines Öko-Rinnsal.

Trampelpfade und Sonderwege
Eine solche Parallel- oder Zusatzproduktion kennzeichnet auch die meisten Märkte. So stehen etwa die agrarindustrielle Lebensmittelproduktion oder die Textilindustrie seit Jahrzehnten unter Kritik. Das hat aber nur dazu geführt, dass sie ihre Produktion weiter intensiviert haben, während sich neben den dominanten Hauptmärkten kleine Öko-Nischen halten. Angesichts dieser bescheidenen Bilanz müssen wir wieder neu darüber nachdenken, wie wir doch noch einen generellen Kulturwandel schaffen können. Wo sind neben den bekannten politischen und den beschränkten technologischen Versuchen erfolgversprechende Ansätze? Was sind für uns hilfreiche mögliche Wandler bzw. Transformatoren? Das Vorbild neuer Lebensstile allein reicht erkennbar nicht aus, schon gar nicht so lange diese als Sonderwege gelten, die neben dem „normalen“ Leben für einige wenige auch möglich sind.

Wachstumsmotoren und Beschleunigungsfaktoren
Es wird derzeit ja gerne mal über „Entschleunigung“ geredet; wir sollen innehalten oder die „Seele baumeln lassen“. In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war noch von „Geschwindigkeitsrausch“ die rede. Der Fortschritt konnte gar nicht schnell genug sein, wenn er mit 50 oder 60 Sachen durch die Landschaft raste. Heute sind wir mehr Getriebene als Himmelsstürmer. Selbst die Gerade in die Zukunft scheint geknickt und das Rad, das im Mittelalter des Schicksals war, kehrt als das des Hamsters wieder. Was aber treibt uns dazu, immer schneller auf der Stelle zu treten? Geld muss Geld „hecken“, hat Marx so schön altmodisch gesagt. Allein der Zwang zur Verzinsung sprengt jede Kreislaufwirtschaft. Konkurrenz bringt einen Innovations- und Übertrumpfungswettbewerb. Auf der Seite des Subjekts geht das auch über Konsum. Tim Jackson hat in „Wohlstand ohne Wachstum“ schön herausgearbeitet, wie sehr unsere Konsumbedürfnisse vor allem statusgetrieben sind.

Keine Kritik „falscher“ Bedürfnisse
Wenn wir die dominanten Produktions- und Konsumweisen kritisieren, hat es keinen Sinn, die Debatten der 60er und 70er Jahre zu wiederholen – http://meinbayern.gruene-bayern.de/blog/2012/04/18/her-mit-dem-guten-leben/. Andreas Dörner hat vor vierzehn Jahren den Pferdefuß dieser Art Konsumkritik herausgestellt, die zu wissen vorgibt, „welche die falschen und welche die richtigen Bedürfnisse der Massen sind. Dies aber kommt letztlich einer Elitendiktatur gleich, in der die ‚Philosophen-Könige’ vorschreiben, was die ‚wirklichen’ Bedürfnisse des Volkes sind.“ Die Menschen müssen und wollen immer noch nicht darüber belehrt werden, dass der Konsumismus nicht ihren „wahren“ Bedürfnissen entspricht und wie diese auszusehen hätten. Aber sie müssen sich der Kritik stellen, ob sie diese Bedürfnisse auf nachhaltige Weise befriedigen: http://buen-viverde.eu/zwischen-zwaengen-und-zielen-wahlfreiheit-dank-kritik-und-politik/. Erst wenn die vermeintliche Selbstverständlichkeit in Frage gestellt ist, gibt es Raum für Alternativen.

Sinn geben und machen
Kritik kann aber nur ein Anfang sein. Denn Vernunft ist nur ein schwacher Antrieb. Darauf verwies schon Alexis de Tocqueville in „Über die Demokratie in Amerika“: „die Menschen setzen sich aus Begeisterung Gefahren und Entbehrungen aus, aber aus Überlegung allein ertragen sie sie nicht lange“. Begeisterung entsteht beispielsweise auf Basis der sinnlichen Erfahrung, Teil einer Bewegung zu sein und dem eigenen Handeln Bedeutung und Sinn zu geben, indem dies in Bezug auf ein Ziel Sinn macht, das wir mit anderen gemein haben und um des Gemeinsinns willen verfolgen. Es gibt längst eine Bewegung. Selbst die Frage „Wie geht Veränderung?“ liegt derzeit in der Luft: http://anstiftung-ertomis.de/images/jdownloads/sonstige/muenchen_wie_veraenderung.pdf. Aber auch wenn viele in ähnlicher Richtung suchen, erfahren sie sich noch nicht als Teil einer Bewegung. Da fehlen uns noch die Orte, an denen wir diese gemeinschaftliche Erfahrung machen könnten und an denen aus unseren jeweiligen Beiträgen etwas neues, gemeinsames entstünde.

Wenn man sich die Parteienlandschaft westlicher Industrieländer anschaut, fällt als deutsche Besonderheit auf, dass sich bei uns bisher keine rechtsextreme oder rechtspopulistische Partei etablieren konnte. Was nicht bedeutet, dass das nicht noch kommen kann, denn die AfD beispielsweise hat durchaus das Zeug dazu. Aber bisher hat offenbar die Abschottungspolitik bestehender Parteien keine Lücke gelassen. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass die Globalisierung die politischen Rahmenbedingungen auch für ihre Gegner verändert. Selbst Rechtsextreme müssen für ihre Ziele heute international zusammenarbeiten. Und auch der populistische Versuch, sich gegen das weltweite Elend abgrenzen, ist eine Antwort auf die Globalisierung und damit verbundenen offenen Grenzen, Märkte, Arbeitsmärkte.

Neue Parteien als Globalisierungsfolge
Dass es keine darauf spezialisierte deutsche Partei gibt, ist umso auffälliger, als wir Grünen ja ebenfalls eine Antwort auf die Globalisierung sind. Die meisten SPDler haben uns immer so behandelt, als seien wir Grünen sozusagen Fleisch von ihrem Fleisch, bestenfalls ein Juniorpartner, und all unsere Ideen und Erfolge stünden eigentlich ihnen zu. Dabei handelt es sich um ein tiefes Missverständnis, sowohl was sie selber als auch was uns angeht. Denn ihr Politik- und Gerechtigkeitskonzept stammt aus dem vorletzten Jahrhundert. Wir Grünen dagegen gedeihen in den westeuropäischen Industriestaaten, weil wir ein globales und Generationen übergreifendes Gerechtigkeitskonzept („Nachhaltigkeit“) entwickelt haben und auf die rasante Pluralisierung mit Offenheit statt Abschottung reagieren.

Menschen- und Bürgerrechte für alle?
Schon die Sozialdemokratie störte sich daran, dass die Menschen- und Bürgerrechte der Aufklärung nicht für alle gelten sollten. Sie haben sie auch für die Arbeiter gefordert. Wir Grünen haben diese Gerechtigkeitsforderungen konsequent ausgeweitet, u.a. auf Frauen, Homosexuelle, global und über Generationen hinweg. Aber jetzt ist offenbar die Zeit für Neugründungen von Parteien gekommen, die sich nur einen Teil unserer Ziele zu eigen machen wollen. In Deutschland waren es kurze Zeit die Piraten, in der Schweiz sind seit 2005 die „Grünliberalen“ im Kommen, in Österreich seit dieser Wahl die „NEOS“. Auffällig an beiden neuen Parteien in unseren Nachbarländern ist u.a. ihr gleichlautender Neusprech: Sie wollen beide „völlig unideologisch“ und „undogmatisch“ sein, „keine ideologischen Grabenkämpfe führen“ und „nicht Partikularinteressen verfolgen“.

Nackte Interessen hinter hippem Neusprech
Wie immer bei Neusprech („Wertpapiere“, „Entsorgung“, „Endlager“) gilt natürlich genau das Gegenteil: Sie wollen die Menschenrechte wieder eingrenzen auf Rechte nur für Bürger. Es geht darum, Partikularinteressen durchzusetzen und Privilegien zu verteidigen, aber so, dass es möglichst keiner merkt. Selbstaussagen „Grünliberaler“ – http://www.grunliberale.ch/ – zufolge sind sie „die einzige Partei, die das längst überholte Links-rechts Schema überwindet“. Auch der Fraktionschef der österreichischen NEOS nennt seine Gründung „eine moderne Zentrumspartei. Die Begriffe links und rechts sagen heute ja nicht mehr sehr viel“. Die NEOS seien eine „Wirtschaftspartei“, „eine wirtschaftsliberale politische Kraft“. Man sehe keinen Unterschied mehr und schon gar keinen Gegensatz zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber – http://neos.eu/.

Man darf grün handeln, muss aber nicht
Auch andere, uns Grüne und durch uns die Gesellschaft quälende Konflikte werden locker entschärft: „Endlich ist der ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft ohne Arbeitsplatzverluste und ohne Verzichte zu haben. Zumindest, wenn man den Versprechungen glaubt“, schreibt http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Der-Gruenliberale/story/10007763. Ein Versprechen sei die „ökologische Revolution unter Beibehaltung einer florierenden Wirtschaft.“ Auch die http://neos.eu/ verkünden den konfliktfreien Wandel: „Wie können schädliche Gewohnheiten ohne Zwang geändert werden? … Der Widerspruch Wirtschaft vs. Umwelt ist nur ein scheinbarer.“ Da lassen sich die Grünliberalen nicht übertreffen. Sie bieten einen „umweltbewussten Lebensstil“, der „ohne große Einschränkungen bezüglich Mobilität und Freizeitgestaltung möglich ist. Nicht mit dem moralischen Zeigefinger oder mit Bußen, sondern primär mit finanziellen Anreizen und Lenkungsmechanismen sind die notwendigen Veränderungen herbeizuführen.“

Trendy, weil „unideologisch“
Zynisch bringt‘s http://www.spiegel.de/politik/ausland/schweizer-gruenliberale-offroader-fahren-und-gruen-waehlen-a-513759.html auf den Punkt: „Villen bewohnen, Offroader fahren, für Greenpeace spenden und dabei grün wählen – die Grünliberalen machen es möglich.“ Ich darf so bleiben, wie ich bin. Muss aber nicht. Darauf hat die Welt gewartet: auf Parteien, die den finanziell Erfolgreichen nicht dazwischen reden, ihnen kein schlechtes Gewissen machen und sie auch sonst nicht belästigen. „Die Neos vermarkteten sich als ‚jung‘, ‚unideologisch‘ und ‚lösungsorientiert‘, und gerade das zog“, schreibt die taz – http://www.taz.de/!124684/. Wer sich in sozialen Fragen einen Dreck um die reale Schieflage schert, bestätigt die Verhältnisse. Die spielen ja auch keine Rolle, solange man selber profitiert. Überhaupt lohnt es sich, wenn man auf der besseren Seite sitzt, Interessenskonflikten auszuweichen und Freiwilligkeit zu propagieren. Trendy ist es, quälende, nicht ohne Streit und Einbußen lösbare Kernfragen einfach auszuklammern bzw. darüber hinwegzugehen. Oberfläche ist heute das Gebot der Stunde.

Eine Partei nur für Realos?
Vor der Vorstellung, sie allein könnten eine Partei dominieren, muss es, meint man, doch die hartgesottesten Realos grausen. Aber nein. Schon hat sich einer gefunden, der die aktuell wabernden Debatten zuspitzt und eine einseitige „Positionierung“ fordert: „Die Grünen können nur als bürgerliche Ökopartei gewinnen. Die Gerechtigkeitsfrage müssen sie den Linken überlassen“ – http://www.taz.de/Debatte-Gruene/!126340/. Natürlich gibt es noch ein paar Gerechtigkeitsfragen, die auch die Grünen beschäftigen dürfen: sie müssten sich z.B. um die „Verschwendung der natürlichen Ressourcen“ kümmern und eine „bürgerrechtliche Partei“ sein. Aber erfolgreich können Grüne demnach nur sein, wenn sie die Gerechtigkeitsfrage wieder verkürzen, denn „‘Systemfragen‘ sind out“. Abgesehen davon, dass zumindest mir vor einer solchen Partei grausen würde, besonders erfolgreich sind diese Modelle auch nicht. Die so gehypten NEOS haben gerade mal 4,9 Prozent erreicht. Aber als Modell, sich wieder verstärkt um die eigenen Interessen zu kümmern, sind sie stilbildend.

Von Harald Welzer kann man sehr viel lernen. In Büchern wie „Selbst denken“ arbeitet er heraus, wie soziale Veränderungen funktionieren und wo Hebel dafür sein könnten. Und dabei zeigt er auch auf, dass die meisten damit zusammenhängenden Fragen kulturelle sind. Damit entwickelt er weiter, was er schon zusammen mit Claus Leggewie („Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“) entworfen bzw. gefordert hat: Es geht nicht ohne „Kulturrevolution des Alltags“, und zwar unseres eigenen Alltags. Denn wir sind vielleicht Teil der Lösung, sicher aber Teil des Problems.

Aufwertung der Politik
Wenn Welzer die individuelle Verantwortung in den Mittelpunkt stellt, bleibt er nicht bei reinen Verhaltensänderungen und Konsumkritik stehen. Denn: „In der Diskussion über Konsumentenverantwortung und Consumer citizenship wird übersehen, dass der Konsumbürger nur reagieren, aber nicht gestalten kann“, schreibt er in „Selbst denken“. „Der Markt unterliegt dem Bürger; der Konsumbürger unterliegt dem Markt. Deshalb kann es so etwas wie kritischen Konsum überhaupt nicht geben.“ Obwohl er also der Politik als Tätigkeitsfeld eine besondere Rolle zuweist, bleiben diesbezügliche Handlungsmöglichkeiten seltsam blass bzw. geraten nur als Negativfolie ins Blickfeld.

Kritik an der Ökobewegung
Offenbar gilt: Je näher jemand Welzer politisch oder sozial steht, desto schärfer fällt seine Kritik aus. Das bekommen nicht nur Klimaforscher, sondern die Ökobewegung generell zu spüren. Vor ihm bestehen können nur pragmatische Versuche, „ein richtigeres Leben“ zu führen – als ob die nicht Teil und Ergebnis der Ökobewegung wären. Während er einzelne ihrer Projekte als Vorwegnahme der Zukunft („Futur Zwei“) heraushebt, kritisiert er die Bewegung für ihren angeblich „antiutopischen Zug“. Da muss man schon ein großes Bedürfnis nach Distinktion haben, um so ein Konstrukt für glaubhaft zu halten: Die goldenen Früchte gegen den verkommenen Baum, der sie hervorbrachte. Wenn politische und soziale Nähe bei Welzer zu scharfer Distanzierung führt, ist es auch nur folgerichtig, dass er immer wieder gerne über die Grünen herfällt.

Die Grünen sind schuld
Attacken auf die Grünen gehören bei Welzer zum Programm. Im SZ-Interview über „Zukunft“ (2.3.13) wirft er den Grünen „das Gerede vor, es sei fünf vor zwölf. Seit vierzig Jahren ist es mittlerweile fünf vor zwölf. Das ist das Einzige, was denen zur Zukunft einfällt: alles so bewahren, wie es war. Und Apokalypse voraus.“ Die Grünen drängten nicht auf die Abschaffung des Kapitalismus und hätten keine „politische Vorstellung darüber, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die nicht dem Prinzip des Wirtschaftswachstums und der grenzenlosen Steigerungslogik folgt“. Welzer selber hat aber auch keinerlei Vorschläge zu machen. Dafür folgert er nach kruder Logik: Wer sich wie die Grünen nicht gegen Widerstände und Mehrheiten durchsetzen kann, ist selber schuld – und verantwortlich für alles daraus folgende Übel.

Abwertung der Politik
Welzer zeigt zwar die Grenzen der Moralisierung des Konsums auf, er ruft also nach Politik. Gleichzeitig aber entwertet er diese nicht nur dadurch, dass er die einzige politische Kraft, die in Richtung Transformation arbeitet, ohne Alternativen oder Änderungen vorzuschlagen, verwirft. Teil seines in „Selbst denken“ entworfenen Programms ist die Forderung, „Bündnisse zu schließen“. Aber wo sucht Welzer sie im Politischen? Er kritisiert mit Recht die Politik der vermeintlichen „Alternativlosigkeit“ (ohne sie so zu nennen): „Im Kern wollen sie alle die marktwirtschaftliche Demokratie in mehr oder minder nachhaltiger Version; niemand will die nachhaltige Demokratie in mehr oder minder marktwirtschaftlicher Version.“ Doch er pauschalisiert lieber, statt konkret zu prüfen. Auch bei den Grünen gibt es unterschiedliche Ziele, Strategien, Einsichten, also auch mögliche Bündnispartner. Wo sollen sie sonst herkommen?

Entpolitisierung
„Gesellschaftliches Interesse ist für die Jugendlichen ausdrücklich nicht mit politischem Interesse identisch. Alles, was mit Politik zu tun hat, ist deutlich negativ konnotiert“, schreibt Welzer in „Selbst denken“. Doch das beschäftigt ihn nicht. Denn er interessiert sich sehr für gesellschaftliche und soziale Handlungsspielräume, aber gar nicht für politische – und das, obwohl er „eine Repolitisierung des ökologischen und nachhaltigen Denkens: eine Definition dessen, wer man sein und in welcher Welt man leben möchte“, fordert. Aber wie das konkret laufen könnte, will er nicht so genau wissen. Lieber diskreditiert er alle gegenwärtigen Verfahren, ohne Alternativen anzubieten. Dabei erklärt er selber, dass sich die Frage nach dem „richtigeren Leben“ gerade auch politisch stellt. Am Ende steht Welzer politisch und theoretisch blank da. Statt sich gemein zu machen, ist er der wahrste Grüne: und da kann es nur einen geben.