Es wird derzeit viel geklagt über den aktuellen Zustand unserer Demokratie, und wie sehr er sich angeblich verschlechtert. Natürlich lösen auch bei mir nicht alle neueren gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen Begeisterung aus. Aber ich sehe absolut keinen Grund, die alte, erkennbar implodierende Variante von Demokratie zu idealisieren. Besondere Blüten treibt diese merkwürdige Nostalgie jetzt kurz vor Torschluss, wenn beispielsweise die Süddeutsche Zeitung dem Zerfall der CSU ein wehklagendes Dossier widmet. Sebastian Beck versteigt sich gar zu solch gewagten Windungen: „Die Gesellschaften spalten sich in Special-Interest-Gruppen auf … In der politischen Mitte aber, wo einst die Kompromisse geschlossen wurden, dort ist es plötzlich leer.“ Das ist aus meiner Sicht ein arg verkürztes Demokratieverständnis. Aber dazu später.
Leben lassen
Denn Beck setzt zum Schluss noch eins drauf, da wird es dann richtig dramatisch: „Leben und leben lassen – damit ist es erst einmal vorbei.“ Vielleicht bin ich da eine Spur überempfindlich. Denn mit mir hat in diesen zum Glück untergehenden guten alten Zeiten niemand „Kompromisse geschlossen“. Und „Leben und leben lassen“ ist seit Jahrzehnten mein persönliches politisches Motto, auch jetzt wieder auf meinem Wahlkampf-Flyer, aber es war immer gegen den Monopolanspruch der CSU gerichtet. Ich wollte halt auch leben. Ich wollte in Bayern leben, und zwar so, wie ich wollte. Und da bin ich halt nicht allein in diesem Land. Wir sind immer mehr geworden, die nicht nach anderer Leute Pfeife tanzen – oder Tanzen verboten bekommen wollen. Deshalb ist auch die Erklärung Becks für den Niedergang der CSU viel zu kurz gesprungen: „Auch weil die Kluft zwischen Stadt und Land immer größer wird“. Meiner Erfahrung nach ist das Gegenteil richtig: die Landbevölkerung kommt heute rum in der Welt; sie lebt halt auch nicht mehr hinter dem Mond oder brav nach den Vorgaben von Altvorderen und Tonangebern.
Bayern ist auch unsere Heimat
Deshalb habe ich beispielsweise im Dezember 2011, auf unserem Heimatkongress in Regensburg – http://www.sepp-duerr.de/heimat-eine-politische-aufgabe/, versucht, den „Heimatbegriff, mit dem die CSU lange erfolgreich gearbeitet hat“ zu zerlegen: „Die CSU hat eine Mehrheit gebildet, indem sie Minderheiten der bayerischen Bevölkerung ausgegrenzt hat. Erst durch die Ausgrenzung von angeblichen Ausländern, Grünen, oder sonst wie Abweichenden hat sich diese „Mia san mia“-Mehrheit, die frühere Mehrheit der CSU, gebildet. Und genau deshalb funktioniert Mehrheitsbildung durch Ausgrenzung nicht mehr: Weil die Minderheiten, die früher ausgegrenzt oder als Bürger zweiter Klasse behandelt werden konnten, sichtbar die Mehrheit der Bayern ausmachen. Das beste Beispiel dafür ist die Landratswahl in Regen. Warum konnte da ein sehr junger, schwuler, evangelischer Sozialdemokrat triumphieren? Weil Frauen, Eingewanderte, Menschen, deren Eltern eingewandert sind, die nicht heterosexuell verheiratet oder nicht in der CSU sind, heute die mehreren und die schwereren sind.“ Das mag manchem damals noch prophetisch – oder noch merkwürdiger – vorgekommen sein, heute nicht mehr.
Platz für mehr Demokratie
Was nun die scheinbar so konsensuale alte Demokratie angeht: Im Jexhof läuft derzeit eine Sonderausstellung „Zwischen Disco, Minirock und Revolte: die 70er“ https://www.jexhof.de/index.php?id=55. Da sind auch Fotos und „Archivalien“ (z.B. ein Millikübel) von mir ausgestellt. Und im Begleittext schildere ich mein damaliges Lebensgefühl: „Für mich wie viele andere waren die 70er Jahre eine Zeit des Ausbruchs aus der dörflichen Enge, des persönlichen und gesellschaftlichen Aufbruchs, neuer Erfahrungen und Experimente. Die ersten Jahre wollte ich nur ‚furt‘: raus von zu Haus. … Täglich hör ich: ‚Geh zum Friseur!‘ Eigentlich wollten wir eher unkonventionell, also unpolitisch sein. Aber schon auf die kleinste Kritik kam: ‚Geh doch nach drüben!‘“ Deshalb war die alte „Demokratie“ für mich immer kritikwürdig: Kinder, Jugendliche, Frauen, Andersdenkende und Kleinhäusler hatten nichts zu sagen, nicht am Familientisch, nicht am Stammtisch, schon gar nicht öffentlich. Da ist es mir heute deutlich lieber, wenn jeder Ansprüche anmeldet – und seien sie den meinen auch noch so entgegengesetzt. Und wenn wir dann die Kompromisse nicht klammheimlich in „der politischen Mitte“ schließen, sondern öffentlich und transparent, kommen wir einer echten Demokratie schon deutlich näher.