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Klima- und Umweltschutz haben es in Deutschland nicht leicht. Da können wir Grünen noch so oft erzählen, dass sie auf Dauer auch ökonomisch unverzichtbar sind. Dafür gibt es allenfalls Zustimmung in schönen Sonntagsreden, aber wenn ökologische Politik konkret werden will, wird bis heute eine Vielzahl ökonomischer oder juristischer Einwände aufgefahren, die jedes Vorhaben erst einmal verzögern oder ganz verhindern. Wie kann es sein, dass sich kurzsichtige wirtschaftliche Interessen so häufig in der Politik durchsetzen? Alle wissen beispielsweise, dass in Deutschland keine Kohle mehr verheizt werden darf, wenn wir einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz leisten wollen. Trotzdem soll der Hambacher Wald mit Hilfe eines erheblichen Polizeiaufgebotes gerodet werden. Beispiele für solche Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln gibt es viele, von Glyphosat bis Dieselskandal. Die simpelste Erklärung ist dann häufig, dass Geld geflossen sei, durch Bestechung oder Parteispenden. Auch das kommt natürlich vor.

Politische Landschaftspflege

„Pflege der politischen Landschaft“ – https://de.wikipedia.org/wiki/Flick-Aff%C3%A4re – betreiben Wirtschaftsgrößen wie Flick offenbar bis heute: http://www.spiegel.de/plus/august-von-finck-und-die-rechten-der-milliardaer-hinter-der-afd-a-00000000-0002-0001-0000-000160960453. Das gibt es im großen Stil und auch im Kleinen. So hat beispielsweise ein Laborunternehmer – https://uaschottdorf.wordpress.com/2014/07/01/justizsystemfehler-fall-schottdorf/ – Stoiber im Wahlkampf 2005 eine Spende von 20.000 € zukommen lassen: „Anliegend übersende ich Ihnen einen Spendenscheck für die CSU in der Hoffnung, dass er mithilft den angestrebten Erfolg zu erreichen und dass jetzt endlich eine Änderung in Deutschland erreicht werden kann.“ Deshalb macht es durchaus Sinn, „den Einfluss des großen Geldes auf die Politik insgesamt zurückzudrängen“ – https://www.lobbycontrol.de/2018/11/die-schatten-finanzen-der-afd-fragen-und-antworten/. Aber Bestrebungen, „Wahlbeeinflussung durch anonyme Großspenden und Querfinanzierungen künftig zu verhindern“, reichen bei weitem nicht aus. „Wirtschaftsfreunde“ in vielen Parteien müssen nicht bestochen werden.

Keine Kapitulation vor Komplexität

Die machen Politik im Sinne jeder Lobby umsonst und freiwillig. Weil „wir alle im selben Boot sitzen“. Wenn die Kanzlerin „in der Finanzkrise auf die falschen Ratgeber aus Banken“ setzt – https://www.aargauerzeitung.ch/wirtschaft/wie-banker-ackermann-einst-kanzlerin-merkel-einseifte-131311787 – oder Ministerien Gesetzentwürfe von Lobbyisten schreiben lassen, dann weil sie dort die ökonomische Expertise vermuten, die sie bei sich vermissen. Bei uns gilt ein Politiker oder eine Partei ja schon als „Wirtschaftsexperte“, wenn er oder sie bereit sind, Kapitaleignern das schnelle Geldverdienen leicht zu machen – auch wenn sie von ökonomischen Vorgängen keinen blanken Schimmer haben. Es ist nur vernünftig, sich von Experten beraten zu lassen. Aber zum einen gibt es keinen Grund, nur auf eine Perspektive zu setzen, zum anderen muss niemand auf seine Urteilskraft verzichten. So wie die CSU-Größen in der Landesbank, die erst dann wissen wollten, welche Art von Produkten die BayernLB mit ihrer Einwilligung gekauft hatte, als es zu spät war: http://www.sepp-duerr.de/finanzmarktkrise-und-bayernlb-wie-weiter-in-der-krise/. Für mich im Untersuchungsausschuss war immer klar: Ich muss kein Finanzexperte sein, um nachzuweisen, dass die Verantwortlichen keine Ahnung hatten und deshalb unverantwortlich handelten.

Lob des Widerspruchs

Kaum jemand macht etwas, das er falsch findet, gern oder erfolgreich, nur weil er dafür bezahlt wird. Auch Politikerinnen und Politiker handeln am liebsten in der Überzeugung, das Richtige zu tun oder wenigstens das am wenigsten Falsche. Aber selbst wer über einen ausgeprägten eigenen Werte-Kompass verfügt, kann leicht unter großen Konsens- und Konformitätsdruck geraten: durch die öffentliche und die veröffentlichte Meinung, Experten- oder Peer-Gruppen, Klientel- oder parteinahe Interessens- oder Wählergruppen. Je weiter die Entfernung zu dem, was wichtige Gruppen als richtig ansehen, desto schwerer wird es, Kurs zu halten. Und umso stärker wird die Angst vor dem Falschfahrer-Syndrom („Was, im Radio sagen sie, einer fährt falsch? Das sind doch viele!“). Um vom „Common sense“ abzuweichen, dem was „man“ für richtig und vernünftig hält und als „gesunder Menschenverstand“ gilt, braucht es nicht nur allerbeste Argumente, sondern Standfestigkeit und vor allem die Überzeugung, dass abweichende Meinungen nicht von vornherein abwegig oder gar überflüssig sein müssen. Wer eine abweichende Meinung vorträgt, muss ja nicht unbedingt Recht haben, um die Debatte und den allgemeinen Erkenntnisfortschritt voranzubringen. Manchmal ist es schon verdienstvoll, scheinbar naheliegende Antworten in Frage zu stellen.

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Wer kein bayerischer Jurist ist, kann über die vielen Pannen im Vorfeld des Prozesses nur den Kopf schütteln. Schlimmer als jede Panne aber ist wieder mal die Rechthaberei hinterher. So sagte Bayerns oberster Richter: Kritiker, die ohne profundes Wissen das Gericht tadelten, hätten die Aufgabe des Gerichts „nicht verstanden“. Ein anderer Richter wird, hinter vorgehaltener Hand, noch deutlicher: „Jeder Hanswurst darf sich ohne jede Sachkenntnis zu dem Fall äußern“. Sie wollen damit sagen: Wir Deppen sollen den Mund halten.

Demokratie ist keine Expertokratie
Aber, liebe Richter, das Spannende an der Demokratie ist, dass jeder mitreden darf – und weil niemand unfehlbar ist, jeder kritisiert werden kann. Auch eine zu Recht unabhängige Justiz darf sich nicht selbst genug sein, sondern sie muss auch Laien gegenüber Rechenschaft ablegen. Es geht nicht nur darum, dass über Taten und Täter geurteilt wird, sondern die Öffentlichkeit muss das auch nachvollziehen können. Wegen der kleinkarierten Rechthaberei der Richter kann man leicht übersehen, wie wichtig der Prozess deshalb ist.

Endlosgeschichte des rechten Terrors
Die fünf unentdeckten Morde des „NSU“ in Nürnberg und München sind das größte Debakel der Inneren Sicherheit in Bayern. Aber es sind leider keine Einzelfälle. Es gibt eine lange, unrühmliche Geschichte des rechten Terrors in Bayern und eine ebenso unrühmliche Serie von Pfusch und Pannen bei der staatlichen Bekämpfung. Zu oft werden rechtsextreme Täter nicht ermittelt und bestraft. Die bayerische Justizministerin hat einräumen müssen, dass bei der Hälfte der Taten das Verfahren „mangels hinreichenden Tatverdachts“ eingestellt wird. Das wirkt auf die unbestraften Täter wie ein Ansporn – auf die Opfer bedrohlich.

NSU-Morde: ein bayerisches Problem
Jetzt werden zum ersten Mal rechtsterroristische Taten in diesem Ausmaß Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein. Nach diesem Prozess wird es nicht mehr möglich sein, Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus in Bayern und in Deutschland zu verharmlosen. Deshalb ist es auch richtig, dass der Prozess in Bayern stattfindet. Der Versuch des bayerischen Innenministers, die Verantwortung für das staatliche Versagen ausschließlich in andere Länder zu verweisen, ist damit erledigt.

Der Staat korrigiert sich
Es ist beschämend, dass der Staat – und allen voran das bayerische Innenministerium – damals mit aller Akribie als Motiv nicht Ausländerhass, sondern Ausländerkriminalität nachweisen wollte. Man hat die Opfer zudem verächtlich gemacht mit Begriffen wie „Döner-Morde“ oder „Soko Bosporus“. Insofern ist die Anklage auch ein Fehlereingeständnis: Der Staat, Staatsanwaltschaft und Polizei geben zu Protokoll, wen sie für die Täter halten und wen für die Opfer. Wenigstens diese Genugtuung durften die Angehörigen der Ermordeten erwarten.

Der Prozess allein wird’s nicht richten
Der Prozess ist nur ein Baustein, staatliches Versagen aufzuklären und verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Daneben versuchen ja die Untersuchungsausschüsse der Länder und des Bundes, Licht ins Dunkel zu bringen – nicht immer mit ausreichender Unterstützung der Behörden. Die Münchner Richter, davon bin ich überzeugt, werden ihre eigentliche Arbeit, Recht zu sprechen, ordentlich tun. Aber für eine umfassende Aufklärung müssen alle ordentlich arbeiten, auch die Parlamente, die Sicherheitsbehörden, die Presse – und schließlich die Historiker.