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Der Landtagswahlkampf wird für die bayerischen Grünen nicht einfach, jedenfalls nicht, wenn sie gewinnen wollen, sprich: die Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung schaffen. Für ein viele halbwegs befriedigendes Ergebnis, also leichte Verluste auf hohem Niveau, reicht es auch, wenn mensch so weiterwurstelt wie bisher; wenn mensch also entweder keine Strategie hat oder sich nicht dranhält. Ein Jahr vor der Landtagswahl sollten die Wähler*innen langsam schon was merken von einem Gestaltungswillen, davon, welche Ziele den Grünen besonders wichtig sind, die sie in den nächsten fünf Jahren umsetzen wollen. Sie sollten Vertrauen fassen und glauben können, wie die Grünen diese Ziele umsetzen wollen, ohne Chaos anzurichten. Sie sollten allmählich erkennen, dass nur die Grünen die ökonomischen und ökologischen Voraussetzungen unseres Wohlstands ohne allzu große Verluste und mit großen Zugewinnen an Lebensqualität umgestalten können.

Stadt wie Land: überall Grüne

Natürlich brauchen wir, anders als vielleicht noch vor etlichen Jahren, eine einheitliche Botschaft für Stadt und Land. Denn da wohnen die gleichen grünaffinen Leute. Unsere Zielgruppen sind im ganzen Land, und zwar noch im abgelegensten Dorf, ökologisch interessiert, klimabewusst und täglich im Einsatz für ein menschenwürdiges Zusammenleben mit allen, die hier wohnen. Wir haben überzeugende, seit jeher in ihrer Region verankerte, ihre Region liebende, von ihren Regionen anerkannte Multiplikator*innen, egal ob ganz hinten im Bayerischen Wald, im Rottal oder ganz oben in Erlenbach und Obernburg im Landkreis Miltenberg. Die wollen von uns auf Augenhöhe angesprochen werden und erwarten ganz konkrete Hilfen, wie sie ihre Heimat lebendig erhalten können. Vieles wissen sie selber, ihnen fehlen im Vergleich zur Stadt nur die Mittel.

Geschlossenheit ist die halbe Miete

Entscheidend ist wie immer die Geschlossenheit. „Wahlerfolge und demoskopische Konjunkturen korrelieren in verblüffendem Maße mit perzipierter Geschlossenheit“, schreiben Joachim Raschke und Ralf Tils in „Politische Strategie“, Wiesbaden 2007: „Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit sind Messlatten der Bürger, mit denen sie vor einem etwaigen Regierungswechsel einzuschätzen versuchen, was sie von den Versprechungen der Oppositionsparteien zu halten haben. Glaubwürdigkeit misst die Wahrscheinlichkeit, dass die Politiker sagen, was sie denken, und tun, was sie sagen. Geschlossenheit ist ein Indikator für Handlungsfähigkeit.“ Aber daran ist nichts „verblüffend“. Wie sollen wir denn die Bürger*innen von unserer Politik überzeugen, wenn wir selbst uns darüber uneinig sind. Und welche Politik wollen wir umsetzen, wenn wir uns in zentralen Fragen nicht verständigt haben? Deshalb ist auch ein enger Schulterschluss mit Berlin unerlässlich: es muss klar sein, dass es auf allen Ebenen nur eine grüne Linie gibt. Dann wissen die Menschen, was sie von uns erwarten dürfen.

Klare Kante gegen Rechtsextreme

Was man sicher von uns erwartet, ist ein unverwechselbarer gesellschaftspolitischer Kurs. Wenn Söder tatsächlich so dumm sein sollte und den Schwenk zurück macht zu konservativer bis reaktionärer Politik – https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-csu-soeder-umfragen-1.5662278?reduced=true, spielt uns das in die Hände. Damit hat er schon einmal vor fünf Jahren fast Schiffbruch erlitten – https://ausgehetzt.org/ausgehetzt/ – und gerade noch in letzter Minute die Kurve gekratzt. Wer sich auf die eigene Klientel konzentriert, macht heute Minderheitenpolitik. Das gilt auch für die ehemalige Mehrheitspartei CSU. Dann können bei uns auch in diesem Wahlkampf selbst strategisch weniger Begabte oder politische No-names und No-hows Erfolge erzielen, wenn sie einigermaßen auf Linie bleiben. Leider hilft das auch der AfD. Wir haben jetzt oft genug erlebt, dass sie da stark wird, wo Konservative versuchen, sie mit rechtspopulistischer Politik zu überholen. Seit Jahren schlechtes Beispiel dafür ist Sachsen. Wenn umgekehrt alle klare Kante zeigen, wie etwa in Schleswig-Holstein, wird die AfD pulverisiert – https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/landtagswahl_2022/Endergebnis-CDU-gewinnt-Landtagswahl-in-SH-mit-434-Prozent,landtagswahl4246.html.

Klarheit schafft Vertrauen

Gleichzeitig müssen wir den Menschen Vertrauen einflößen, dass wir die Veränderungen managen können. „Menschen gewinnt man nicht für Veränderungen, bloß weil man ihnen sagt, sie bräuchten keine Angst zu haben. Stattdessen vergrößert man ihre Unsicherheit und Orientierungslosigkeit“ – https://seppsblog.net/2021/08/29/gegen-angste-hilft-kein-ruf-nach-mut-nur-klarheit/: „Wer Vertrauen wecken will und Ängste nehmen, muss klar und deutlich sagen, nicht nur wie die Ziele, sondern wie die nächsten Schritte genau aussehen sollen. Und was das für jede und jeden einzelnen bedeutet.“ Deshalb müssen wir in unseren Aussagen eindeutig und einhellig bleiben, auf verblasene Rhetorik verzichten und möglichst konkret werden sowie erfolgreiche Beispiele anführen.

Kampf um Direktmandate Bei der Landtagswahl im nächsten Jahr werden die Karten neu gemischt, und zwar in jedem Stimmkreis. Da werden die Kandidati*innen schon mehr machen müssen als nur einen grünen Eindruck. So manches Münchner Direktmandat verdankt sich nur der Schwäche der CSU und einem allgemeinen grünen Hype. Umgekehrt ist schwer vorstellbar, dass ländliche Stimmkreise wie Weilheim/Schongau oder Bad Tölz-Wolfratshausen/Garmisch einen Kandidaten hätten nach München schicken können, wenn nicht solche, für die Stimmkreise wie geschnitzte Pfunde angetreten wären. So einheitlich das Vorgehen auf Landesebene sein muss, so differenziert muss die Stimmkreis-Arbeit sein. Und die zentrale Frage dabei lautet, ob der jeweilige Stimmkreis sich eignet für einen Kampf ums Direktmandat: Ist die Wählerschaft dafür da? Gibt es eine geeignete Kandidat*in? Wenn nein, dann darf mensch sich ruhig auch etwas ökologisch radikaler äußern und die grüne Nische ausschöpfen. Wenn aber ja, dann ist es wichtig, einen Mehrheitswahlkampf zu führen, also einen, der nicht allein auf die grüne Klientel abzielt. Dann hat mensch so oder so beste Aussichten, im nächsten Herbst in den Landtag zu kommen.

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Vor vierzig Jahren haben wir beschlossen, unseren Betrieb „umzustellen“, also künftig ökologisch zu wirtschaften. Zum Glück gab es bereits einige hilfsbereite Biobauern in Bayern, bei denen wir uns über Anbau und Vermarktungsmöglichkeiten informieren konnten. Viele waren unorganisiert, also ohne Anbauverband, einige geradezu sprichwörtlich eigen-sinnig und manche auch politische „Rebellen“ wie etwa der Bichler Sepp. Etliche Betriebe, wie die sich als „bio-dynamisch“ verstehenden „Demeter“-Höfe in der Schule Rudolf Steiners, existierten bereits seit vielen Jahrzehnten, in der zweiten oder dritten Generation. Andere waren inspiriert von der katholischen Dritte-Welt-Bewegung oder aufgeschreckt von gesundheitlichen Problemen, eigenen oder von Familienmitgliedern, und setzten deshalb auf gesunde Ernährung. Aber alle schwammen gegen den Strom, sie waren Ökopioniere, die sich gegen Widerstände durchsetzen mussten. Sogar als wir selber dann 1984 umgestellt hatten, konnte von öffentlicher Unterstützung oder staatlicher Förderung noch lange keine Rede sein, im Gegenteil.

Feindbild alternativer Anbau

Nicht nur von den meisten Berufskollegen, sondern auch von den Vertretern des Bauernverbandes und selbst den Beamten im Landwirtschaftsamt wurden wir scheel angesehen, öffentlich kritisiert und, wo es ging, behindert. Denn der Ökoanbau wurde als genau gegenläufige, ja feindliche Bewegung zum eigenen „konventionellen“ Anbau angesehen. Folglich haben wir, wie viele andere, ganz ohne jede öffentliche Förderung begonnen, beim Anbau experimentiert und unseren eigenen Absatzmarkt aufgebaut. Als wir uns später dem Bioland-Verband anschlossen und dort noch eine offizielle Umstellungsphase durchlaufen mussten, hat uns das Landwirtschaftsamt trotzdem die staatliche Umstellungsförderung verwehrt: Wir gingen leer aus, weil wir ja – auch dank medialer Berichterstattung – als Biobetrieb „landkreisweit bekannt“ seien und längst umgestellt hätten. Dabei hat der Biomarkt natürlich prompt auf die staatliche Förderung reagiert, so dass auch unsere Erzeugerpreise nachgaben. Aber selbst danach wurde uns am Amt die Teilnahme an offiziellen Förderprogrammen vorgehalten, mit der Bemerkung, „der Dürr nimmt alles mit“.

Üble Nachreden, respektlose Taten

Auch die Reaktion bei vielen Nachbarn und den Berufskollegen im Dorf und praktisch im ganzen Landkreis war vorzugsweise ablehnend bis feindlich. Wir waren Gesprächsthema im ganzen Landkreis. In Germering wurde uns nachgesagt, wir würden nachts auf die Felder fahren und heimlich düngen und spritzen. In Alling hat man uns vorgehalten, „unsere“ Kartoffelkäfer liefen sogar über die Straße, um die Bestände auch des Nachbarn anzugreifen. Disteln und anderes Unkraut im Getreide war selbst dem Kreisobmann öffentliche Kritik wert; all unsere Felder standen unter strenger, kreisweiter Beobachtung. Sonntags machten Bauernfamilien einen Ausflug statt in den Zoo zu uns auf den Betrieb: Sie fuhren mit ihrem Auto in unseren relativ kleinen Hof, sahen sich um und fuhren gruß- und wortlos wieder davon. Nachbarn sind mit ihren schweren Schleppern und den Mähdreschern einfach in unserem Feld umgekehrt, quer über Dämme und Furchen, ohne jede Rücksicht auf die Anpflanzung, denn das war ja ohnehin für sie nichts als verunkrautetes Glump.

Alternative als personifizierte Kritik

Grüne und Biobewegung sind – wie die Regionalbewegung – „fortschritts“-kritische Antworten auf die zunehmende Intensivierung, Industrialisierung und Globalisierung der Lebensmittelproduktion und die dadurch erfolgte Entwertung von Natur, Umwelt und Lebensmitteln. In den frühen 80er Jahren sah die herrschende Meinung beide, Grüne wie Biobauern, als „Ökospinner“ an. Ihrerseits wollten beide eine Alternative zum dominanten Wirtschafts- und Lebensstil bieten. Die Grünen kandidierten in den Kommunen als „Alternative“, mit Grün-Alternativen Listen; der Ökoanbau wiederum sah sich als „alternativer Landbau“ – im Gegensatz zum „konventionellen“. Unser Ortsbauernführer, der diese Konstellation klar erkannte, sagte deshalb öffentlich: „Wenn der Dirr recht hätte, hätte ich ja mein Leben lang alles falsch gemacht.“ Bis heute vermeiden die Regierenden in Bayern krampfhaft alles, was als Kritik an der „konventionellen“ oder als „einseitiges“ Lob für die biologische Landwirtschaft verstanden werden könnte.

Neue Märkte, neue Wege

In den Achtziger Jahren musste ein Biobetrieb bei vielem allein zurechtkommen und bei Null beginnen. Deshalb haben wir viel von dem, was heute selbstverständlich erscheint, mit aufgebaut: So gab es in Germering und im ganzen Landkreis kaum noch Direktvermarkter, selbst Eier und Kartoffeln wurden kaum noch ab Hof angeboten. Auch die Bauern, bei denen man noch direkt Milch bekommen konnte, wurden immer weniger. Wir haben gegen den Trend unsere eigene Direktvermarktung aufgebaut, auch mit Milch ab Hof, dann die ersten Ökobäcker – wie die Genossenschaft „KO-Back“ und später das Cafè Vorort – mit Getreide, Kartoffeln und Gemüse beliefert; ebenso schon seit seinem Beginn den Regionalverteiler Ökoring oder Einzelhändler wie den „Öko-Hans“. Direktvermarktung war für unseren kleinen Betrieb die einzige Chance zu überleben. Deshalb waren wir auch von Anbeginn mit dabei, als Bauern in Fürstenfeldbruck dafür notwendige Einrichtungen geschaffen bzw. erhalten haben: Bauernmarkt und Schlachthof.

Experimentelle Anfänge

Wir haben neue Vermarktungsformen gesucht und gefunden, aber auch neue Produkte und Produktlinien eingeführt oder vergessene wiederentdeckt. Nur dank uns Biobauern wurden alte Sorten und aussortierte Pflanzen wieder salonfähig, von Dinkel, Petersilienwurzel und Pastinake bis hin zu Kürbissen, Zucchini, Radicchio, Rucola oder Sonnenblumen. Viele Samen musste ich mühsam im Ausland bestellen, beim Saatguthändler in Italien, damals noch mit einem höchst umständlichen, aufwändigen Zahlungsverfahren, oder wie Squash-Kürbisse von Privat aus Südafrika mitbringen lassen. Unser Getreide haben wir selber reinigen müssen, in einer alten, aufgegebenen Saatgutreinigung der Raiffeisen, und unseren Dinkel viele Kilometer zum Entspelzen gefahren. Mit unseren Vermarktungsformen und neuen Produkten waren wir Vorreiter und Schutzschild der lokalen Regionalvermarkter, von denen viele die Umstellung  zunächst scheuten, aber nach Jahren dann doch den Schritt wagten. Die „konventionellen“ Betriebe konnten auf dem Bauernmarkt, bei „Brucker Land“ sowie in der Direktvermarktung in unserem Kielwasser fahren und unsere Produktionsverfahren und Produktlinien übernehmen.

Ideologen auf der Regierungsbank

Denn auch die konventionellen Direktvermarkter galten jetzt für sich selber und für die Verbraucher*innen als „naturnah“. Aber anders als wir Biobauern wurden sie jederzeit von der CSU und den CSU-Regierungen bevorzugt. Weil die bayerische Regierung bis heute jede Kritik an Umweltschäden durch die „konventionelle“ Landwirtschaft zwanghaft vermeidet und für ein großes Fördergefälle sorgt, ist eine extensive Bewirtschaftung für viele Bauern weiterhin attraktiver als ein kontrollierter Ökoanbau. Selbst heute noch tun viele so, als seien Ökoprodukte nur etwas für spezielle Leute und als könnten sich alle anderen daran vergiften – eine Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse, wenn man etwa ans Artensterben denkt. Als ich Anfang 1986 von den Germeringer Grünen eingeladen wurde, über den „Biologischen Anbau als Chance für Bauern und Verbraucher“ zu sprechen, habe ich meinen Vortrag so begonnen: „Ich hätte auch die Einladung einer anderen Partei angenommen. Es ist nicht meine Schuld, wenn die ‚Grünen‘ als einzige Interesse am biologischen Anbau zeigen.“ Leider ist das im Prinzip heute noch so.

In der Geschichte der „Völkerwanderung“, also der Zeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter, ist das erstmalige Auftauchen der „Bayern“ buchstäblich nur eine Randnotiz. Der Althistoriker Mischa Meier erzählt auf über 1100 Seiten die „Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr.“ (München 2019). Gerade mal vier Seiten braucht er dabei, um „Von den Anfängen Bayerns“ zu erzählen. Mehr ist nicht nötig, weil der „Ursprung der Bayern“, über den viele Historiker- und Politikergenerationen gerätselt und geraunt haben, völlig zeittypisch ist, d.h. nichts Besonderes. „Nicht zum ersten Mal im ‚Völkerwanderungs‘-Kontext ist die Frage nach der Herkunft eines Verbandes auch für die Baiuvarii falsch gestellt, da sie unmittelbare Migrations- und ‚Landnahme‘-Assoziationen hervorruft, die dem Entstehungsprozess der Gemeinschaft nicht gerecht werden“, stellt Meier klar.

Bayern ist kein Einwanderungsland

Diese apodiktische Aussage hat die CSU in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wie ein Mantra vor sich und uns hergebetet. Und auch wenn diese ideologische Behauptung in völligem Gegensatz zur heutigen Wirklichkeit steht, für die bayerischen Anfänge trifft sie tatsächlich zu. Die „Baiuvarii“ sind nicht als geschlossenes Volk und fertige politische Einheit von irgendwo her eingewandert, aus Böhmen oder sonstwo, sondern sie waren schon längst da, als sie sich unter diesen Namen selbst entdeckten. „Ethnogenese“ nennt Meier das, wenn Menschen völlig verschiedener ethnischer und regionaler Herkünfte sich in einem „Volk“ zusammenfinden. Kristallisationspunkte waren erfolgversprechende Anführer, mit denen bunte Trupps auf Beutezug gingen, und zwar vorzugsweise da, wo es etwas zu holen gab, nämlich im römischen Reich. Gemeinsame Erfahrungen – vorzugsweise Siege, aber zur Not auch Niederlagen – schweißten dann die unterschiedlichsten Gruppen zusammen, zumindest so lang das Erfolgsversprechen glaubwürdig blieb, wie z.B. bei den Hunnen unter Alarich.

Unter fränkischer Herrschaft formt sich das bayerische Volk

Ähnlich sieht Meier die „Herausbildung der Baiuvarii zunächst einmal als Manifestation politischer (nicht ethnischer) Identitätsbildung“. Den – buchstäblichen – Raum dafür haben ausgerechnet Franken geschaffen. Denn lustigerweise war die erste Voraussetzung dafür eine Gebietsreform. Maier zufolge „bestand für die Bevölkerung im östlichen Raetien und westlichen Noricum der entscheidende Schritt in der Auflösung der römischen Provinzstruktur durch die Merowinger […] sowie in der Umwandlung der Region in einen eigenständigen Militär- und Verwaltungsbezirk, der als Dukat (‚Herzogtum‘) den Mitgliedern einer angesehenen fränkischen Familie, den Agilolfingern, zur Betreuung übergeben wurde“. Das kommt einem irgendwie bekannt vor. Genauso die zweite Voraussetzung, nämlich der Spielraum, den die neuen Herrscher für regionale Identitäten ließen. Denn sei es „eine grundsätzliche Stärke der fränkischen Herrschaft, nicht nur auf lokaler, sondern auch auf regionaler Ebene Rücksichten zu nehmen und die Ausbildung von Eigenidentitäten großzügig zuzulassen.“ Erst in diesem politischen Raum konnte neues entstehen.

Bayerischer Topf unter fränkischem Deckel

Fränkische Herrschaft schuf einen Topf, in dem bayerische Herrscher, erst die Agilolfinger und Jahrhunderte später die Wittelsbacher, sich ein Volk anrühren ließen: ein Prozess, „der im Ergebnis zur Ausprägung einer bayerischen Identität innerhalb der heterogenen, einerseits reströmischen, andererseits aus verschiedenen Kontexten zugewanderten Bewohnerschaft des ostraetischen und westnorischen Alpenvorlandes – im heutigen Bayern gelegen – geführt haben muss. Auch hier stand am Beginn die Einsetzung eines dux“. Dass die Herrschaft möglichst in der Familie blieb, war damals der Normalfall, aber Vererbung auf Kinder blieb selten. „Die Erblichkeit des agilolfingischen Herzogtums jedenfalls mag den nun allmählich einsetzenden Identitätsbildungsprozess in seinem Gebiet befördert haben, insofern offenbar bald eine enge Ausrichtung der ansässigen Bevölkerung auf die weitgehend unabhängige, ja königsgleiche Herrschaft der Herzöge erfolgte“, schreibt Meier. Entscheidend war der Vorgang aktiver Identifizierung, zunächst mit dem Anführer, dann mit dem politischen Raum.

Mia san mia – weil mia das wollen

Fremdzuschreibungen waren in diesem Fall Ergebnis von Selbstidentifikationsprozessen: „Baiuvarii waren demzufolge zunächst schlicht alle jene, die sich politisch zu den Agilolfingern bekannten; erst im Verlauf der Jahrzehnte durchlief die Bezeichnung einen Nachethnisierungsprozess, um schließlich alle Bewohner des Herzogtums zu umfassen, unabhängig von ihrer Herkunft. Als diese Entwicklung zu ihrem Ende gekommen war, galten als Baiuvarii jene Personen, die im territorial definierten Geltungsbereich der Lex Baiuvariorum, die bezeichnenderweise keine ethnischen Differenzierungen vornimmt, geboren wurden.“ Das „Volk“ der „Bayern“ ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern es hat sich selber politisch geformt. Eine zunächst politische Gemeinschaft wurde erst später ethnisiert und sollte dann mit Abstammungslehren bei der Stange gehalten werden. Heute ist längst wieder der umgekehrte Prozess im Gang: Weil wir Bayern sein wollen, egal woher wir kommen und wie wir angeblich sind, san mia mia.

„Germering braucht direkte Demokratie“, kommentierte der Lokalreporter Karl-Wilhelm Götte eine Debatte über einen Bürgerentscheid in unserem Stadtrat – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/germering-stadtrat-lehnt-buergerbegehren-ab-1.5058208. Ähnliche Diskussionen finden derzeit nicht nur in meiner bescheidenen Heimatstadt, sondern fast überall in Deutschland, Europa und der Welt statt. Vielen stellt sich heute die Frage, ob und wie das Verhältnis zwischen repräsentativer und direkter Demokratie neu geordnet werden muss oder kann. Schnell wurde auch bei uns „aus der Diskussion um das Ratsbegehren am Ende ein Schlagabtausch zwischen direkter und repräsentativer Demokratie“ – https://www.merkur.de/lokales/fuerstenfeldbruck/germering-ort28724/germering-kein-ratsbegehren-niederlage-fuer-gegner-des-briefzentrums-90063410.html. Die Argumente gegen direkte Demokratie sind dabei so alt wie die repräsentativen Institutionen selber. Deshalb kann es nicht schaden, das Entstehen und die Entwicklung dieser unserer Institutionen aus neuer Perspektive unter die Lupe zu nehmen.

Ute Daniels Öffnung der Demokratiegeschichte

Die Historikerin Ute Daniel erzählt „eine faszinierende Geschichte vom Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie“ – https://www.hamburger-edition.de/buecher-e-books/artikel-detail/postheroische-demokratiegeschichte/d/2542/Postheroische_Demokratiegeschichte/6/. Verdienstvoll ist jedenfalls, dass sie unsere Demokratie- und Parlamentsgeschichte wieder öffnet: Sie verläuft weder teleologisch, also in ein höheres Ziel mündend, noch sind ihre Ergebnisse sakrosankt, also unantastbar und unveränderlich. Wir können innerhalb eines praktikablen Rahmens suchen, ob uns etwas besser passt. Daniel will mit ihrer Interpretation der Geschichte unsere politischen Handlungsmöglichkeiten erweitern. Dazu gehört auch, dass sie uns die wenig hehren, realpolitischen Gründe und Vorgänge aufzeigt, die zu unserem heutigen parlamentarischen System geführt haben, und dafür explizit die Eigengesetzlichkeiten parlamentarischer Regierungssysteme in den Blick nimmt. Bei alldem ist es durchaus verzeihlich, dass sie gelegentlich übers Ziel hinausschießt.

Was die Geschichte lehrt

An Jubel- oder Gedenktagen wird gern und mit großer Geste behauptet, dass Geschichte irgendwelche Lehren für uns bereithält. Auch Ute Daniel bejaht dies, aber unter der Voraussetzung, dass diese Geschichte „weder Patentrezepte liefert noch die kindliche Vorstellung bedient, sie laufe irgendwie auf uns zu“. Das heißt, wenn wir aus der Historie etwas lernen können, dann sicher nicht deshalb, weil wir dort Rezepte fänden für unsere heutigen Probleme. Politisch Sinn macht Geschichte vor allem dann, wenn sie uns zeigt, wie das, was uns an politischen Bedingungen oder Gesetzlichkeiten beschäftigt oder gar stört, entstanden ist, und warum. Dadurch können wir entscheiden, ob diese Voraussetzungen noch vorliegen. Was erkennbar geschichtlich und mit bestimmten Gründen entstanden ist, lässt sich verändern oder beibehalten. Unsere heutige parlamentarische Demokratie sei Dank ihrer Geschichte einseitig „auf die Hervorbringung handlungsfähiger Regierungen“ ausgerichtet, kritisiert Daniel. Aber das reicht vielen heute nicht mehr. Denn auf „die Frage, wie politische Partizipation der Bevölkerung, wie Einfluss von unten auf ‚die da oben‘ möglich ist, hat es keine Antwort.“

Mehr Teilhabe, mehr Demokratie

Wenn also der Germeringer CSU-Fraktionsvorsitzende wie andere vor ihm erklärt: „Wir wurden gewählt, um Entscheidungen zu treffen“, dann unterschlägt er, dass ja bereits heute Elemente direkter Demokratie in unserer Verfassung und Gemeindeordnung enthalten sind – wenn auch nicht unbedingt dank der CSU. Völlig falsch liegt er, wenn er unterstellt, mit einem Instrument wie einem Bürgerentscheid solle „das Vertrauen in gewählte Institutionen untergraben werden“ – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/germering-stadtrat-lehnt-buergerbegehren-ab-1.5058208.  Denn wie sich, so Daniel, „nicht erst heute zeigt, ist die regelmäßige Wahl von Personen und Parteien kein hinreichendes Mittel, um Einfluss ‚von unten‘ auf das politische System zu nehmen, um also das Prinzip politischer Teilhabe tatsächlich in die Praxis umsetzen zu können“. Nur wenn wir die repräsentative durch direkte Demokratie ergänzen, lässt sich auf Dauer das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen sichern.  Der Weg dorthin ist allerdings alles andere als eine gmahte Wiesn. Den Umgang mit direkter Demokratie, ihren Verfahren und insbesondere den Schwierigkeiten, die ein allzu simples Ja-Nein-Schema etwa bei Referenden aufwerfen, muss man lernen, wie alles andere auch. Aber, so tröstet uns Daniel im ersten Satz ihrer Vorbemerkung, man kann aus der Geschichte lernen, „vorausgesetzt, man will es.“

Nach den ersten Sitzungen in den Kreistagen, Stadt- und Gemeinderäten kann man sich gelegentlich schon verwundert die Augen reiben. Denn auch wenn in vielen Orten demokratische Gepflogenheiten wie das informelle Vorschlagsrecht der stärksten Fraktionen respektiert oder generell die Weichen auf kollegiale Zusammenarbeit gestellt wurden, gibt es doch eine erstaunliche Anzahl von Räten, in denen sich eine formelle oder heimliche, von der örtlichen CSU angeführte Gestaltungsmehrheit zusammengefunden hat zu dem Zweck, die Grünen klein und außen vor zu halten. So z.B. im „Starnberger Kreistag. Grüne fallen bei Stellvertreter-Wahl drei Mal durch“ – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/starnberg/starnberg-landrat-stefan-frey-stellvertreter-1.4908201?source=rss – und werden „nicht nur in Rosenheim ausgebremst“ – https://plus.pnp.de/ueberregional/bayern_oberbayern/3687325_Gruene-nicht-nur-in-Rosenheim-ausgebremst.html. Auch in den Landkreisen heißt es oft: „Grüne gehen leer aus“ – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fuerstenfeldbruck/landrats-stellvertreter-gruene-gehen-leer-aus-1.4912524 .

Koalition der Verlierer

Das zieht sich von Oberbayern bis in Unterfranken. In ganz Bayern gibt es kommunale Gremien, in denen die CSU eine Koalition der Wahlverlierer gegen uns Grüne schmiedet: „Grüne gehen bei Wahl der Landrats-Stellvertreter leer aus“ https://www.main-echo.de/regional/stadt-kreis-aschaffenburg/neuer-kreistag-tritt-zusammen-gruene-gehen-bei-wahl-der-landrats-stellvertreter-leer-aus;art3986,7024207. „Wenn Sieger zu Verlierern werden. Die Grünen haben kräftig zugelegt, trotzdem gelingt es ihnen nicht immer, ihre Kandidaten für Stellvertreterposten durchzusetzen“ – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/starnberg/landkreis-starnberg-gruene-kommunalwahlen-1.4899247. Gerade weil wir bei den Wahlen so erfolgreich waren, sind wir jetzt für fast alle anderen plötzlich der Hauptgegner. Inhaltlich hat sich unser wechselseitiges Verhältnis ja nicht geändert, weil wir Grünen immer noch an Klimaschutz und der Ökologisierung von Wirtschaft und Konsum als zentrale politische Aufgaben festhalten. Aber machtpolitisch hat sich vieles geändert. Anders als früher sehen sich die anderen Parteien, allen voran die CSU, aber eben auch die „Parteifreien“ plötzlich unter doppeltem Druck, sich mit diesen grünen Zielen auseinander- und sie umzusetzen.

Die anderen spüren unsere Macht

Alle können ökologische Notwendigkeiten nur noch schwer leugnen und sie bekommen entsprechende Forderungen aus den eigenen Reihen, von eigenen Wählergruppen wie von ihnen früher nahen Unternehmen. Darin spüren sie schon heute unsere Macht: sie sehen sich gezwungen, grüne Politik zu machen. Und die Angst sitzt ihnen im Nacken: Denn die heutigen Verlierer werden voraussichtlich auch die von morgen sein. Wir sehen also tatsächlich „eine Demonstration der Macht“ – https://www.sueddeutsche.de/muenchen/starnberg/gauting-gemeinderat-konstituierende-sitzung-gruene-landkreis-starnberg-1.4906556, aber einer, die verzweifelt und mit falschen Konzepten ihren Verfall aufhalten will. Wie wenig souverän diese schwarze Macht noch ist, zeigt sich an den Nebengeräuschen. Nicht nur an einem Ort wie Gauting sollen die Grünen „von Anfang an in die Rolle der Opposition zurückgedrängt“ werden. Da geht es nicht nur darum, „die erstarkten Grünen lieber klein zu halten“, sich nicht „die Konkurrenz für die nächste Wahl heranzuziehen“ und zu verhindern, dass sich Grüne für eine erneute Kandidatur „warmlaufen“ (https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/kommunalwahl-in-taufkirchen-gruene-und-spd-gehen-leer-aus-1.4909526). Vor allem will man uns von Stellen fernhalten, bei denen wir zeigen könnten, wie gut wir Ämter oder offizielle Vertretungen führen und ausfüllen.

Raus aus der Oppositionsecke

Wir könnten ja zeigen, dass die notwendige grüne Politik am besten von Grünen umgesetzt werden kann (https://seppsblog.net/2020/03/18/die-kurze-stunde-des-machers/). Deshalb sollen wir Grünen wieder in die ideologische Ecke zurückgestellt werden, in der man uns so lange hat halten können. Mehr noch: man will die grüne Politik insgesamt in die ideologische Ecke stellen, um sie zu „entschärfen“. Es bedürfe „sachlicher Debatten und Entscheidungen und nicht ideologisch motivierter“ (https://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/gemeinderat-gerbrunns-gruene-gehen-bei-stellvertreterwahl-leer-aus;art736,10442356). „Die Beteiligung der Grünen sei aus inhaltlicher Sicht nicht sinnvoll“, im Kreistag „treffe man Verwaltungsentscheidungen, es gehe weniger um politische Ideen“ (https://www.kreisbote.de/lokales/landsberg/landsberger-landrat-sein-buntes-quartett-13761416.html). Es sind also zwei Aspekte, unter denen wir antworten müssen: Gegen die Versuche von Ideologisierung und „Versachlichung“, also Entpolitisierung, müssen wir unsere inhaltlichen Forderungen klar und pragmatsich umsetzbar dagegenstellen. Und auch an Orten und Gremien mit verhärteten, konfrontativen Verhältnissen dürfen wir uns weder in die Schmollecke noch in die ideologische Nische von Rechthaberei und Moral abdrängen lassen, sondern wir müssen das Gespräch und die Zusammenarbeit mit allen suchen, die sich in der Tat auf mehr Klimaschutz und ökologischeres Wirtschaften einlassen.

In Zeiten von Corona schlägt sie wieder: die Stunde des Machers. Am Beispiel von Markus Söder etwa kann man Glanz und Elend dieser großen alten Rolle bestens studieren. In seinen guten Momenten versteht man ohne weiteres, warum die Deutschen in der Stunde der Not so gern auf das Heldenschema des „großen Mannes“ zurückgreifen. Söder glänzt derzeit in dieser Rolle: „Selten wirkte dieser Mann so authentisch wie jetzt als Krisenmanager“, lobte ihn die Süddeutsche Zeitung gestern zurecht: https://www.sueddeutsche.de/bayern/coronavirus-markus-soeder-kommunalwahl-bayern-1.4846791?reduced=true. Das bedeutet, er füllt nicht nur die Rolle gut aus, sondern er handelt zum größten Teil wirklich so, dass man den Eindruck hat, besser kann man es kaum machen.

Mandat auf Zeit

Deshalb sind auch viele bereit, sich jetzt darauf zu verlassen, dass er „es schon richten“ wird, und auch dazu, erhebliche Einschränkungen und Eingriffe in ihre Freiheitsrechte, vor allem die der Bewegungs- und Reisefreiheit hinzunehmen. Trotzdem ist die Befürchtung von René Schlott („Um jeden Preis? Eine offene Gesellschaft wird erwürgt, um sie zu retten“, SZ 17. März 2020), wir steuerten auf eine „Gesundheitsdiktatur“ zu, völlig übertrieben. Denn zumindest bei uns in Deutschland geht es allenfalls um notwendige Einschränkungen auf Zeit. Auch das informelle Mandat des Machers ist nur auf sehr beschränkte Zeit erteilt. Nicht zuletzt weil heute alle Rollen, nicht nur Heldenrollen eine extrem schnelle Verfallszeit haben.

Land ohne Bestimmer

Deshalb wird die „Corona-Krise“ für Söder auch nicht seine Hamburger Flut oder das Elbhochwasser, bei dem sich jeweils männliche Führungsfiguren wie Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder in Gummistiefeln und bestem Lichte dem Volke zeigen konnten. Denn es ist längst nicht ausgemacht, dass in unseren neuen Zeiten diese alte Rolle wirklich noch mal ein Revival erleben kann. Schon gar nicht längerfristig. Zum einen kann niemand absehen, ob es tatsächlich die richtigen Maßnahmen sind, die da so entschlossen ergriffen werden. Zum anderen leben wir in deutlich demokratischeren Zeiten, in denen die Menschen allenfalls noch mal vorübergehend ihre Rechte und Ansprüche zurückstellen und auf einen Einzelnen vertrauen. Schon die Kinder rebellieren bei uns, wenn es ihnen zu viel wird mit den Bevormundungen: „Du bist nicht mein Bestimmer!“

Auseinanderfallen von Partei- und Persönlichkeitswahl

Dass die Menschen in Deutschland heute ganz genau differenzieren können und deshalb auch nicht bereit sind, ihre Selbstverantwortung einfürallemal auf andere, nämlich mögliche Repräsentanten zu übertragen, sieht man auch bei der bayerischen Kommunalwahl. An dieser geänderten Grundvoraussetzung, und der bisher noch unzureichenden Reaktion „der“ Politik darauf, liegt es übrigens auch, dass oft so viel Elend und so wenig Glanz der repräsentativen Demokratie sichtbar wird. Das vielleicht Bemerkenswerteste an unserem grandiosen grünen Erfolg in Stadt und Land, also praktisch in allen bayerischen Kommunen, in denen wir zur Wahl angetreten sind, ist nicht, dass wir so viele Sitze erobert haben und zuweilen sogar stärkste Partei wurden. Auch nicht, dass die CSU in vielen Orten fast pulverisiert wurde. Das Bemerkenswerte ist das systematische, nicht bloß gelegentliche Auseinanderfallen von Partei- und Persönlichkeitswahl.

Das Ende des Besenstiels

Wer heutzutage mit Begeisterung für eine Partei stimmt, schaut sich trotzdem häufig genau an, wen er oder sie an die Spitze der Verwaltung setzen soll. Deshalb waren wiederum meine Befürchtungen nach der Landtagswahl übertrieben, dass jetzt nicht mehr nur bei der CSU, sondern auch bei uns in erster Linie nach Parteibuch bzw. Parteipräferenz gewählt wird:  https://seppsblog.net/2018/10/28/besenstiel-und-demokratie/. Bewährte AmtsinhaberInnen wurden gewählt, egal welcher Partei sie angehörten, andere müssen mindestens zittern. Auch das ist nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit. Aber wirklich besonders diesmal ist, dass selbst die mit Zwei-Drittel-Mehrheit Bestätigten meist kaum auf ihre Partei abfärben und ihr keinen Extraschub verpassen konnten. Deshalb müssen etliche, die mit einem grandiosen Erfolg ins Amt gesetzt wurden, jetzt mit fremden, wenn nicht gar feindlichen Mehrheiten regieren.

Grüne Politik braucht grüne Akteure

Woran liegt das? Dafür kann man sich das Beispiel Söder wieder vornehmen. Auch er hat ja schon vor seiner Blüte als Krisenmanager schon hohe Zustimmungswerte erreicht, die ihm niemand, am wenigsten die eigenen Leute zugetraut hätten. Aber die CSU konnte bisher davon nicht oder nur wenig profitieren. Denn die Mehrheit der Menschen sieht, dass er das Nötige gut umzusetzen in der Lage ist. Sie sieht aber genauso deutlich, dass weder er noch die CSU fähig sind, das Nötige auf die Tagesordnung zu setzen. Dafür, auch das ist ein klarer Auftrag der Kommunalwahl, werden wir Grünen gebraucht. Umgekehrt haben wir Grünen jetzt die Aufgabe, Personen zu fördern, auszubilden und nicht zuletzt ins Rampenlicht zu  stellen, denen die Wählerinnen und Wähler ebenfalls zutrauen, notwendige, also grüne Politik effizient und unfallfrei umzusetzen. Dann bringen wir Partei- und Persönlichkeitswahl wieder in Übereinstimmung.

Söder hat seine Lektion gelernt. „Es ist eine Kampfansage der neuen Art: Nachdem die CSU die Grünen lange Zeit bekämpft hat, indem sie ihre Ideen für unrealistisch erklärte, setzt Parteichef Markus Söder nun eher darauf, diese Ideen zu übernehmen“, schrieb die taz im Juli – https://taz.de/Klimaschutz-bei-der-CSU/!5609851/. Und der österreichische Standard notierte wenig später: „Bei der CSU ist jetzt das grüne Mäntelchen en vogue. Bayerns Ministerpräsident Söder hat den Klimaschutz entdeckt – Innenminister Seehofer irritiert mit Milde in der Asylpolitik“ – https://www.derstandard.de/story/2000109604815/bei-der-csu-ist-jetzt-das-gruene-maentelchen-en-vogue. Selbst unsere alten Losungen wie die von „Ökonomie und Ökologie“, die „man zusammendenken“ müsse, kann „die grün angepinselte CSU“ jetzt brauchen – https://www.sueddeutsche.de/bayern/csu-klima-soeder-konzept-beschlossen-1.4590179. Denn „Grün kommt gut an beim Wähler“: https://www.deutschlandfunk.de/sinneswandel-der-csu-gruen-kommt-gut.

Alle paar Jahre wieder: Die CSU ergrünt

Die Strategie, mit der die CSU uns Grünen das Wasser abgraben und in ihre Kanäle leiten will, ist ja nichts Neues. „Die CSU soll grüner werden“ – https://www.sueddeutsche.de/bayern/soeder-csu-kurskorrektur-1.4334725: Solche Schlagzeilen gab es schon unter Stoiber. Söder selber sagte 2004 dem Magazin Focus, mit Blick auf jüngste Wahlerfolge der Grünen, falls die Union Umweltpolitik, Klima- und Artenschutz den Grünen überlasse, sehe er die Gefahr, dass die Öko-Partei auch „von wertkonservativen Menschen gewählt“ werde https://www.focus.de/politik/deutschland/deutschland-da-sind-wir-schlecht-aufgestellt_aid_200328.html. Passiert ist danach nix. Eher das Gegenteil. Deshalb sah sich die CSU 2007 wieder gezwungen, unsere grünen Ideen und Begriffe aufzugreifen. Sie genierte sich kein bisschen und nannte beispielsweise eine „Aktuelle Stunde“ im Landtag „Global denken, lokal handeln“ und kopierte sogar die Farben unserer Plakate. Aber all das hat wenig geholfen. Denn bisher stand hinter der neuen Verpackung nie eine neue, eine grüne Politik.

Söders neue „Achtsamkeit“

Jetzt hat auch Söder grüne Kreide gefressen und geriert sich als überparteilicher Staatsmann. Weil er spürt, woher der Wind weht, übernimmt auch er einmal mehr den grünen Duktus bis in die Wortwahl und ruft „zu mehr Mut und Optimismus“ auf sowie „zu einem gemeinsamen Kampf für die Werte der Demokratie“. Der „frühere Politrambo Markus Söder“, hat die SZ jüngst notiert – https://www.sueddeutsche.de/leben/trauma-verdraengung-psychologie-1.4720283?reduced=true –, „wirkt immer häufiger so, als habe er ein Achtsamkeitsseminar mit dem Dalai Lama besucht. Aber was ist schlimm daran, sich neu zu erfinden?“ Es bringt halt oft gar nix. Bei Achtsamkeitsmeditation gebe „es keine Belege für eine toleranzförderliche Wirkung“, schreibt dieselbe SZ ein paar Tage später – https://www.sueddeutsche.de/politik/psychologie-einatmen-ausatmen-abstimmen-1.4727146. Aber, das ist beruhigend, sie „schadet auch nicht“.

Grün: Gegner und Blaupause

Wenn es um uns Grüne geht, hat Söders Großmut ohnehin Grenzen. Denn da geht‘s ums Eingemachte, um die Macht in Bayern: „Der Hauptkonkurrent um Platz eins sind die Grünen“: https://www.tagesschau.de/inland/soeder-gruene-101.html. Und da sind dann alle Mittel recht. Schon den Bundestags- und Landtags-Wahlkampf 2013 hat die CSU gezielt und skrupellos gegen uns Grüne ausgerichtet: https://seppsblog.net/2016/11/27/systematisch-und-skrupellos-csu-wahlkampf-gegen-uns-gruene/. Auch jetzt versucht die CSU wieder, uns Grüne auszugrenzen und in die ideologische Ecke zu stellen. Aber darauf werden nur noch wenige reinfallen. Nicht zuletzt aber kann sich der Versuch der Polarisierung auch als kontraproduktiv erweisen und gegen den Urheber richten. Vor allem weil grün zu scheinen, ohne es zu sein, auch so schon nicht ganz einfach ist. Mimikry, also zu tun als ob, ist ja kein neues Phänomen. Schwebfliegen beispielsweise geben sich, um nicht gefressen zu werden, als Wespen oder Bienen aus, können aber weder stechen noch Honig produzieren. Und es gibt immer Vögel, die genauer hinschauen. „Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat“, heißt es bei Hegel.

Je mehr ergrünen, desto besser

Am Ende ist es ist völlig egal, ob Söder es diesmal ernst meint oder nur den nächsten Wahlerfolg im Blick hat. Zum einen ist es ja ein Zeichen unserer Stärke und unser Erfolg, wenn sich die CSU gezwungen sieht, unsere grünen Ideen und Begriffe aufzugreifen. Und das honorieren die Menschen. Zum anderen ist es viel besser für Bayern, wenn die CSU grüne Politik macht oder wenigstens so tut, statt weiter zu hetzten, zu spalten und alle ökologischen Ideen schlecht zu machen. So entsteht ein Klima, in dem Parteien, die bei den bayerischen Wählerinnen und Wählern Erfolg haben wollen, um die besten grünen Ideen wetteifern müssen, und in dem Regierungen an ihren grünen Taten gemessen werden. Noch wichtiger ist: Eine Partei allein wird die überfällige, von der CSU so lange verzögerte Modernisierung Bayerns eh nicht schaffen. Da sind selbst wir Grünen auf Unterstützung angewiesen und darauf, dass möglichst viele daran arbeiten, unser Land demokratischer, ökologischer und vor allem klimafreundlicher zu machen. Wir Grünen sind um jeden froh, der mit uns in diese Richtung geht, auch über eine neu ergrünende CSU.

Es gibt derzeit eine unglaubliche Vielzahl von bayerischen Dörfern, in denen grüne Ortsverbände gegründet und Listen mit herausragenden Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt werden. Daran ist – auch ohne grüne Parteibrille betrachtet – einiges so bemerkenswert wie aufregend: Es sind kleine und kleinste Orte, in denen man auch als grüner Optimist nicht wirklich erwartet hätte, dass dort so viel grünes Leben, ja dass überhaupt grünes Leben entstehen und aufblühen kann. In Orten wie Mammendorf oder Alling haben wir als Landtagsabgeordnete und Kreispolitikerinnen und -politiker über etliche Jahrzehnte immer wieder in froher Erwartung Anläufe gestartet und Veranstaltungen durchgeführt und wurden mit unschöner Regelmäßigkeit ernüchtert. Andere Orte, die man gar nicht auf dem Schirm hatte, wie Althegnenberg oder Pfaffenhofen an der Glonn, überraschen mit höchst kompetent und paritätisch besetzten Listen.

Weil wir hier leben

Mindestens so überraschend wie erfreulich nicht nur aus grüner Perspektive ist die unglaubliche Politikbegeisterung, die sich in diesen kleinen Dörfern breit macht, und zwar in allen Regionen Bayerns. Nicht nur im weiteren Einzugsgebiet der Hauptstadt, sondern in der Oberpfalz genauso wie in Schwaben oder Franken rührt sich gerade auf dem Land allerhand. Unter den Kandidatinnen und Kandidaten finden sich viele, die sich gerade jetzt dafür entschieden haben, politisch aktiv zu werden, weil es höchste Zeit zum Handeln ist. Auffällig ist außerdem, wie viele Hochqualifizierte sich in diesen Dörfern finden, und zwar frisch Zugezogene genauso wie wieder Heimgekehrte. Unser Land ändert sich, es urbanisiert sich im positiven Sinne. Die Bevölkerung ist weitgereist, welterfahren und weltoffen und gerade auch deshalb heimatverbunden: „Weil wir hier leben“, aber was von der Welt gesehen haben, wissen wir, was wir schützen und was wir anders machen müssen, damit unser Land und unser Planet lebenswerte Plätze bleiben.

Land der Vielfalt

Besonders bemerkenswert ist schließlich, dass die neuen grünen Listen die bisher dort vorherrschende Gemeindepolitik im eigentlichen Sinne politisieren. Denn sie beenden einen Zustand, in dem es keine parteipolitische Wahl und keine wirkliche politische Alternative gab. Es blieb meist nur die Wahl zwischen Personen, Ortsteil- oder Interessensvertretern wie Grundbesitzern, Bauern oder Handwerkern. Frauen sind ohnehin nur ausnahmsweise vertreten. In vielen dieser Orte hat sich bei den letzten Bürgermeisterwahlen kein Gegenkandidat zum Amtsinhaber gefunden. Deshalb will ein CSU-Bürgermeister jetzt wissen, ob die Grünen auch einen Kandidaten aufstellen. Weil er dann auf der CSU-Liste kandidiert. Sonst lässt er sich „überparteilich“ aufstellen. Und er warnt die Grünen: „Keine Tricksereien“. Denn da kennt er sich aus. Etwa mit der „parteifreien“ Kandidatur eines CSU-Bürgermeisters. „Überparteilich“ heißt halt: innerhalb der innerparteilichen Bandbreite der CSU. Das war bisher breit genug.

Ab jetzt wird’s politisch

In all diesen Orten schauen die amtierenden Bürgermeister oder Kandidaten nun persönlich nach, was da passiert. Als könnten sie’s nicht glauben. In dem Moment, in dem die Gründung eines grünen Ortsverbandes ansteht oder eine Aufstellungsversammlung, bekunden alle, wie sehr sie sich persönlich schon bisher für Klima- und Naturschutz eingesetzt haben. Auf einmal werden grüne Themen wichtig. Damit haben die Grünen in ihrer Kommune schon Wirkung erzielt, bevor sie überhaupt kandidieren. Das gilt erst recht für das politische Klima und die lokale Demokratie. Denn in all diesen Orten fallen die meisten Entscheidungen im Gemeinderat, egal zu welchem Thema, einstimmig und ohne jede öffentliche Diskussion. Mann hat vorher ausgekartet, was nachher als Entscheidung öffentlich und stumm nachvollzogen wird. Wenn politische Entscheidungsprozesse aber nicht transparent und nachvollziehbar ablaufen, ist nicht mal ein Minimum an Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet.

Zuwachs an demokratischem Reichtum

Wenn es bisher einen Streit gab, wurde er persönlich, nicht politisch. Wenn Grüne als politische Gruppierung mit klarer Botschaft und Zielsetzung in diese Gemeinderäte einziehen, wird es offene politische, also demokratische Auseinandersetzungen geben. Der südamerikanische Schriftsteller und Diktatoren-Freund Louis Borges nannte mal, wie man eben in der SZ lesen konnte, die Demokratie einen „Missbrauch der Statistik“. Da hat er einen wunden Punkt getroffen, denn wenn bloß Stimmen gezählt werden und sonst nichts weiter an Mitbestimmung passiert, ist Demokratie eine leere Hülse. So erklärte ein CSU-Fraktionschef neulich am Stammtisch: „Wenn von Euch wer in den Gemeinderat kommt, gibt es nur Probleme. Dann sind keine Mehrheiten mehr möglich.“ Er möchte da kein Bürgermeister sein. Halb so wild. Dann macht‘s halt eine Grüne oder ein Grüner. Es gibt ja jetzt Alternativen. Reichtum bemisst sich nach den Möglichkeiten, die einem offenstehen, Freiheit danach, ob man die Wahl hat. In Bayern mehrt sich gerade der demokratische Reichtum.

Vermutlich wurde noch nie so viel geredet wie heute. Allenfalls höfische Zirkel könnten da noch mithalten, zu Zeiten als Wortgefechte Taten ersetzen mussten und Bonmots noch töten konnten. Aber das heißt nicht unbedingt, dass bei uns genug miteinander geredet wird. Formate wie Talkshows, Twitter oder Facebook begünstigen eher den Schlagabtausch als den Austausch von Argumenten und Abgleich von Standpunkten. Und wenn es einem zu viel wird, wechselt man halt schnell das Format. Wer regelmäßig ins Vereinsheim oder zum Wirt geht, kann das nicht so einfach. Zwar treffen sich am Stammtisch auch nur „die, die immer da sitzen“. Doch es sind in der Regel höchst unterschiedliche Personen, die sich im öffentlichen oder halböffentlichen Raum begegnen und auseinandersetzen. Da sind Konfrontationen unausweichlich, mit anderen Meinungen oder Menschen, denen wir uns nicht ohnehin zugehörig fühlen. Logisch, dass da auch mal unversöhnliche Positionen aufeinanderprallen. Damit muss man dann zurechtkommen.

Die Luft wird dünn über den Stammtischen

Stammtische sind in Bayern vorpolitischer Raum und damit politisch umkämpftes Gelände. Insbesondere die CSU erhebt den Anspruch auf „die Lufthoheit über den Stammtischen“. In seiner Studie über „Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung“ von 2004 hat Andreas Kießling herausgearbeitet, wie sehr schon Stoiber populistische Kampagnen nur zu diesem Zweck betrieben hat. Aber heute orientiere sich die CSU um, erklärt Peter Müller in seiner Analyse von 2016, „Der Machtkampf. Seehofer und die Zukunft der CSU“: „Die Bindekraft des Stammtisches schwindet“. Die CSU setze deswegen inzwischen „für das Gespräch mit dem Bürger“ auf Social Media, denn, so Partei-Geschäftsführer Strepp: „Immer weniger Leute gehen nach der Kirche zum Stammtisch. Strepp zitiert den Werbespruch eines amerikanischen Fernsehanbieters: Gebt es den Leuten, wann, wo und wie sie es wollen.“ Natürlich kann man mit den Menschen nur da reden, wo sie sich auch aufhalten. Aber Kommentare, Posts und Likes sind bestimmt kein vollwertiger Ersatz für ein tatsächliches Gespräch und echte Debatten.

Ende der Selbstverständlichkeiten

Die Bindekraft des Stammtisches ist ja nicht das einzige, das schwindet. Der Zerfall der bayerischen Parteienlandschaft lässt sich auch als europäische Normalisierung und als nachgeholte Modernisierung begreifen: Auch unsere scheinbar so geschlossene Gesellschaft hat sich längst ausdifferenziert; bislang gleichsam „naturwüchsige“ Selbstdefinitionen oder Zugehörigkeiten wie „Nation“, „Klasse“ oder „Schicht“, „Geschlecht“ und „Familie“ haben jede Selbstverständlichkeit verloren, und damit schwächen sich auch bisher scheinbar automatische parteienspezifische Bindungen ab. Identitäten und Gemeinsamkeiten müssen heute gezielt hergestellt werden, von den jeweils einzelnen, von Gruppen oder auch Parteien. Solche offenen Diskussions- und Selbstdefinitionsprozesse können allerdings nur gelingen, wenn alle Teilnehmer die jeweilige Unterschiedlichkeit und die Form demokratischer Selbstorganisation als unstrittig akzeptieren. Andreas Dörner nennt das „die elementare Diversität von Interessen in pluralen Demokratien“: https://seppsblog.net/2017/02/10/wehret-den-anfaengen-gesellschaftlicher-spaltung/. Darauf müssen wir uns einstellen: dass andere anders sind und nicht automatisch das gleiche denken und wollen wie wir. Wenn wir Gemeinsamkeiten wollen, müssen wir sie herstellen.

Diskussions- und Definitionsprozesse organisieren

Dafür haben wir noch viel zu wenig Verfahren, aber auch zu wenig Erfahrung, um Konflikte unterschiedlicher Interessen zu managen und diese in einem fairen Ausgleich unter einen Hut zu bringen. Aber nur wenn uns das gelingt, erfahren wir uns nicht lediglich als bloß widersprüchlich gegeneinander, sondern als zusammen an einem Projekt Arbeitende. Dafür brauchen wir Gelegenheiten und Orte, an denen wir miteinander ins Gespräch kommen und uns dadurch als zugehörig oder wenigstens einander zugewandt erleben. Ein solcher Ort war und ist der Stammtisch. Den Platz am Stammtisch hat man sich nicht erkauft durch Gleich-zu-gleich-Geselligkeit, Likes, Freundschaftsanfragen oder Wohlverhalten. Am Stammtisch sitzt man, weil man da hingehört, als Teil der Dorfgemeinschaft, als Mitglied des Sportvereins oder welcher Gruppe auch immer. Weil kein vereinheitlichendes Auswahlverfahren stattfindet, muss man mit unterschiedlichen Sichtweisen zurande kommen. Vor allem aber muss man selbst bei einem Streit so auseinandergehen, dass man sich beim nächsten Stammtisch wieder begegnen und friedlich an einem Tisch sitzen kann.

Landtagsstammtisch auf Radio Lora: 20. Februar 21 Uhr

Am 20. Februar treffen wir uns zum ersten Mal zum Landtagsstammtisch: von 21 bis 22 Uhr auf Radio Lora 92,4 – http://lora924.de/?page_id=7853. Was läuft im Landtag? Darüber spreche ich jeden 3. Mittwoch im Monat mit Menschen, die im Maximilianeum arbeiten. Gast im Studio ist diesmal die Filmemacherin und neu gewählte Münchner Abgeordnete Sanne Kurz. Ruft an und redet mit! Unter 089 – 48952305 landet Ihr bei mir im Studio 1.

Früher haben wir uns, um nach verlorenen Wahlen wenigstens als moralischer Sieger dazustehen, gerne in den hilflosen Spott geflüchtet, die CSU könne einen Besenstiel aufstellen und der werde auch gewählt. Nun ist auch diese Gewissheit in Frage gestellt. Natürlich ist jemand wie der ehemalige Kultusminister genauso wie seine innerparteiliche Feindin in München mit Recht aus dem Landtag geflogen. Aber nicht nur bei der CSU hat der jeweilige Wahlerfolg nicht immer etwas mit der besonderen Qualifikation oder Disqualifikation der jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten zu tun. Insofern konnten wir diesmal eine Menge über die Repräsentativität unserer Demokratie lernen, ihre Besonderheiten und Beschränktheiten. Gerade die Beschränktheiten zeigen sich dann halt auch mal bei Kandidatinnen und Kandidaten und schließlich bei manchen Gewählten. Man muss das ja nicht so kritisch sehen wie Alexis de Tocqueville in seinen Beobachtungen „Über die Demokratie in Amerika“.

Keine zwangsläufige Auswahl der Besten

Dem französischen Aristokraten missfiel schon in der ersten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts, „dass die bedeutendsten Männer selten zu öffentlichen Ämtern berufen werden“. Er bemerkte dabei eine gewisse Wechselseitigkeit: „Drängen die natürlichen Instinkte in der Demokratie das Volk dazu, bedeutende Männer von der Macht fernzuhalten, so treibt ein nicht weniger starker Instinkt diese zur Abkehr von der politischen Laufbahn, wo es ihnen schwer gemacht wird, völlig sie selbst zu bleiben und vorwärtszukommen, ohne sich herabzuwürdigen.“ Aufgrund dieser Eindrücke folgert der kritische Beobachter aus Europa, „dass diejenigen, die im allgemeinen Wahlrecht eine Gewähr für gute Auslese erblicken, sich einer völligen Täuschung hingeben. Das allgemeine Wahlrecht hat andere Vorzüge, aber diesen nicht.“ Wer sich anschaut, wer als Ergebnis etwa unserer Bayern-Wahl das Land regiert, wird ihm nur rechtgeben können. Tocqueville stellt damals noch eine weitere Eigenheit des demokratischen Ausleseprozesses fest.

Die Macht gehe vom Volke aus

So bemerkt er, dass es beim Volk Vorbehalte gibt gegen Seiteneinsteiger und generell gegen alle, die ihren Erfolg nicht ausschließlich der Auswahl durch das Volk verdanken: „Man bemerkt, dass im allgemeinen alles, was ohne sein Zutun aufsteigt, nur schwer seine Gunst erlangt.“ Diese Vorbehalte sind offenbar umso stärker, je größer das eigene politische Engagement. Denn es lohnt sich dann, wenn das eigene Votum auch bei Auswahlprozessen eine Rolle spielt. In den „Schriften zur Politischen Ökonomie“ hat Pierre Bourdieu dieses Phänomen noch ausgeprägter in bürokratischen Parteiapparaten gefunden. Diese würden vorzugsweise die sprichwörtlichen Apparatschiks delegieren: „Tatsächlich reüssieren sie nicht, weil sie die Gewöhnlichsten sind, sondern weil sie nichts außerhalb des Apparats besitzen, nichts, das ihnen erlauben würde, sich ihm gegenüber Freiheiten herauszunehmen“. Und Bourdieu folgert: „Das fundamentale Gesetz bürokratischer Apparate lautet, dass der Apparat all denen alles (nicht zuletzt die Macht über den Apparat) gibt, die ihm alles geben und alles von ihm erwarten, weil sie außer ihm nichts haben und nichts sind.“ Besonderheit und Autonomie stören da nur.

Gleich und gleich

Das ist nicht automatisch ein Grund für Empörung, schon gar nicht für moralische Überhebungen. Denn die politische Auswahl ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Gleich und gleich gesellt sich gern: Nicht nur in deutschen Führungsgremien und vermeintlichen oder wirklichen Eliten will man „unter uns“ bleiben. Auch wer heutzutage wählt, will meist sich selber repräsentiert sehen, und zwar -– mehr als seine Interessen – seine kulturelle Identität, sein Selbstbild. Trump lässt grüßen. FW-Chef Aiwanger weiß also genau, was er tut, wenn er über die angestrebte Koalition mit der CSU sagt: „Wenn man mit jemand ins Bett geht, der viermal so schwer ist, muss man gut aufpassen, dass man nicht erdrückt wird“ und dann noch anfügt: „Wir sind dann aber die Schlankeren, die schneller aus dem Bett springen, wenn es zusammenbricht“ – https://twitter.com/hansoberberger/status/1056136614278258688. Damit will er „dem Volk“ nach dem Maul reden, und bei einem Großteil seiner Wählerschaft schafft er es so ja auch, sich als Identifikationsfigur und Stellvertreter anzudienen.

Breite Repräsentativität

Im Hinblick auf, wie es im Profifußball heißt, „die Breite unseres Kaders“ resümiert unser jüngster grüner Landtagsabgeordneter Florian Siekmann mit Recht stolz – https://www.instagram.com/p/BpMxJ1-HB7h/?taken-by=fsiekmann: „Unsere Fraktion bildet wie keine andere die Gesellschaft ab: von jung bis alt, von Student über Pfleger bis Biobauer, mit Migrationshintergrund und ohne.“ Denn Repräsentativität ist, in all ihrer Beschränktheit, dann kein Problem, wenn sie wirklich durchgehend funktioniert: Wenn also möglichst alle Gruppen bei der Auswahl beteiligt werden und sich darin wiederfinden können. Und wenn, sofern der Hunger nach Repräsentativität gestillt ist, dann noch Raum bliebe für besondere Menschen, die eben keine wirkmächtige Gruppe hinter sich wissen können. Darin wäre dann Repräsentativität auf der Höhe unserer Zeit: Denn die Aufgaben, vor denen wir in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stehen, können wir nicht mehr allein bewältigen. Selbstbestimmung schafft man nicht mehr allein, sondern nur in Zusammenarbeit mit anderen. Schon weil unser eigener Standpunkt beschränkt, unsere Perspektiven beengt und unsere Wahrnehmungen begrenzt sind, brauchen wir das Mitwirken der vielen anderen.