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Schlagwort-Archive: Alternativlosigkeit

Es gibt derzeit eine unglaubliche Vielzahl von bayerischen Dörfern, in denen grüne Ortsverbände gegründet und Listen mit herausragenden Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt werden. Daran ist – auch ohne grüne Parteibrille betrachtet – einiges so bemerkenswert wie aufregend: Es sind kleine und kleinste Orte, in denen man auch als grüner Optimist nicht wirklich erwartet hätte, dass dort so viel grünes Leben, ja dass überhaupt grünes Leben entstehen und aufblühen kann. In Orten wie Mammendorf oder Alling haben wir als Landtagsabgeordnete und Kreispolitikerinnen und -politiker über etliche Jahrzehnte immer wieder in froher Erwartung Anläufe gestartet und Veranstaltungen durchgeführt und wurden mit unschöner Regelmäßigkeit ernüchtert. Andere Orte, die man gar nicht auf dem Schirm hatte, wie Althegnenberg oder Pfaffenhofen an der Glonn, überraschen mit höchst kompetent und paritätisch besetzten Listen.

Weil wir hier leben

Mindestens so überraschend wie erfreulich nicht nur aus grüner Perspektive ist die unglaubliche Politikbegeisterung, die sich in diesen kleinen Dörfern breit macht, und zwar in allen Regionen Bayerns. Nicht nur im weiteren Einzugsgebiet der Hauptstadt, sondern in der Oberpfalz genauso wie in Schwaben oder Franken rührt sich gerade auf dem Land allerhand. Unter den Kandidatinnen und Kandidaten finden sich viele, die sich gerade jetzt dafür entschieden haben, politisch aktiv zu werden, weil es höchste Zeit zum Handeln ist. Auffällig ist außerdem, wie viele Hochqualifizierte sich in diesen Dörfern finden, und zwar frisch Zugezogene genauso wie wieder Heimgekehrte. Unser Land ändert sich, es urbanisiert sich im positiven Sinne. Die Bevölkerung ist weitgereist, welterfahren und weltoffen und gerade auch deshalb heimatverbunden: „Weil wir hier leben“, aber was von der Welt gesehen haben, wissen wir, was wir schützen und was wir anders machen müssen, damit unser Land und unser Planet lebenswerte Plätze bleiben.

Land der Vielfalt

Besonders bemerkenswert ist schließlich, dass die neuen grünen Listen die bisher dort vorherrschende Gemeindepolitik im eigentlichen Sinne politisieren. Denn sie beenden einen Zustand, in dem es keine parteipolitische Wahl und keine wirkliche politische Alternative gab. Es blieb meist nur die Wahl zwischen Personen, Ortsteil- oder Interessensvertretern wie Grundbesitzern, Bauern oder Handwerkern. Frauen sind ohnehin nur ausnahmsweise vertreten. In vielen dieser Orte hat sich bei den letzten Bürgermeisterwahlen kein Gegenkandidat zum Amtsinhaber gefunden. Deshalb will ein CSU-Bürgermeister jetzt wissen, ob die Grünen auch einen Kandidaten aufstellen. Weil er dann auf der CSU-Liste kandidiert. Sonst lässt er sich „überparteilich“ aufstellen. Und er warnt die Grünen: „Keine Tricksereien“. Denn da kennt er sich aus. Etwa mit der „parteifreien“ Kandidatur eines CSU-Bürgermeisters. „Überparteilich“ heißt halt: innerhalb der innerparteilichen Bandbreite der CSU. Das war bisher breit genug.

Ab jetzt wird’s politisch

In all diesen Orten schauen die amtierenden Bürgermeister oder Kandidaten nun persönlich nach, was da passiert. Als könnten sie’s nicht glauben. In dem Moment, in dem die Gründung eines grünen Ortsverbandes ansteht oder eine Aufstellungsversammlung, bekunden alle, wie sehr sie sich persönlich schon bisher für Klima- und Naturschutz eingesetzt haben. Auf einmal werden grüne Themen wichtig. Damit haben die Grünen in ihrer Kommune schon Wirkung erzielt, bevor sie überhaupt kandidieren. Das gilt erst recht für das politische Klima und die lokale Demokratie. Denn in all diesen Orten fallen die meisten Entscheidungen im Gemeinderat, egal zu welchem Thema, einstimmig und ohne jede öffentliche Diskussion. Mann hat vorher ausgekartet, was nachher als Entscheidung öffentlich und stumm nachvollzogen wird. Wenn politische Entscheidungsprozesse aber nicht transparent und nachvollziehbar ablaufen, ist nicht mal ein Minimum an Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet.

Zuwachs an demokratischem Reichtum

Wenn es bisher einen Streit gab, wurde er persönlich, nicht politisch. Wenn Grüne als politische Gruppierung mit klarer Botschaft und Zielsetzung in diese Gemeinderäte einziehen, wird es offene politische, also demokratische Auseinandersetzungen geben. Der südamerikanische Schriftsteller und Diktatoren-Freund Louis Borges nannte mal, wie man eben in der SZ lesen konnte, die Demokratie einen „Missbrauch der Statistik“. Da hat er einen wunden Punkt getroffen, denn wenn bloß Stimmen gezählt werden und sonst nichts weiter an Mitbestimmung passiert, ist Demokratie eine leere Hülse. So erklärte ein CSU-Fraktionschef neulich am Stammtisch: „Wenn von Euch wer in den Gemeinderat kommt, gibt es nur Probleme. Dann sind keine Mehrheiten mehr möglich.“ Er möchte da kein Bürgermeister sein. Halb so wild. Dann macht‘s halt eine Grüne oder ein Grüner. Es gibt ja jetzt Alternativen. Reichtum bemisst sich nach den Möglichkeiten, die einem offenstehen, Freiheit danach, ob man die Wahl hat. In Bayern mehrt sich gerade der demokratische Reichtum.

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Ein Nazi ist ein Nazi ist ein Nazi. Das muss man doch sagen dürfen. Dass ein Nazi ein Nazi ist. Wenn er einer ist. Wenn er aber keiner ist, weil sein Weltbild weder komplett rechtsextrem noch verfestigt ist, wird er sich zu Unrecht beschuldigt und beschimpft fühlen. Er wird nur damit beschäftigt sein, sich gegen den Vorwurf zu wehren, statt sein Verhalten zu ändern. Statt seine Äußerungen und seine Weltanschauung zu überprüfen, wird er vielleicht Rassismus verharmlosen und Rassisten rechtfertigen. Die „Nazi-Keule“ wurde schon so oft von allen möglichen Leuten und selbst von Rechtspopulisten rausgeholt, dass sie gar nichts mehr trifft, geschweige denn auf den Begriff bringt. „Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“, spottet Goethe im „Faust“. Auch der gern als Pauschalverdammung gebrauchte Begriff „Faschismus“ erklärt weniger als er verschleiert, weil er nicht auf den Punkt bringt, was den Rechtspopulismus heute so gefährlich macht.

Logik der Grabenkämpfe

Dabei haben wir mit Pauschal-Vorwürfen und Totschlag-Argumenten reichlich Erfahrung. In meiner Jugend waren selbst Begriffe wie Demokratie und Rechtsstaat für viele, die überall auf Nazi-Erbe und NS-Kontinuitäten stießen, verlogene Kampfbegriffe, die das Gegenteil von dem bedeuteten, was sie beanspruchten. Recht und Demokratie galten nur sehr eingeschränkt. Mit Blick auf „Notstandsgesetze“ und Kumpanei mit allen Diktatoren dieser Welt wurde recht leichtfertig von „Faschismus“ gesprochen. Ohne jede eigene Erfahrung von Willkür, Terror oder Folter haben wir alle politischen Systeme, die nicht unseren moralischen Ansprüchen genügten, über einen Kamm geschert. Das lag nicht zuletzt daran, dass umgekehrt wir, wenn wir nur ein bisschen Kritik am Kapitalismus und am „System“ äußerten, umstandslos als „Kommunisten“ verdammt wurden. Deshalb fiel es uns schwer, Verbrechen, die im Namen des „realen Sozialismus“ begangen wurden, wahr- und ernstzunehmen. Wir sahen uns gezwungen, alle Kommunisten dieser Welt zu verteidigen, wenn wir uns selbst verteidigen wollten.

Ein Schlagwort, das weh tun soll

Grabenkämpfe vertiefen Gräben. Warum können viele trotzdem nicht auf das Etikettieren und Beschimpfen von „Nazis“ verzichten? Sie bestehen auf dem Abstempeln und Einsortieren in die rechtsextreme Schublade, als ob sie damit rechtspopulistische Umtriebe aus der Welt schaffen oder wenigstens in den Griff bekommen könnten. Aber wenn immer alles gleich „Faschismus“ ist, geht es offenbar nicht ums Begreifen. Dann geht es um ein Schlagwort. Wenn man schon nichts ändern kann, will man wenigstens wehtun, zumindest mit Worten. Ein Zeichen von Ohnmacht, von hilfloser Wut. Ich habe die Wut auf Demos gegen Aufmärsche von Neonazis ja auch jedes Mal gefühlt selber. Deren martialisches Auftreten und spürbarer, gegen unsereinen gerichtete Vernichtungswille können einen nicht kalt lassen. Sie fordern einen auch körperlich heraus, sich zur Wehr zu setzen. Diese Wut will man auch rausschreien. Aber  dennoch habe ich den Slogan „Nazis raus!“ nie verstanden. Wo sollen die denn hin? Eine ethische Säuberung kann keine adäquate Antwort auf die Drohung ethnischer Säuberung sein.

Kritisieren, nicht moralisieren

Vielleicht soll die Benennung helfen, das Phänomen wenigstens verbal in Griff zu kriegen, also gleichsam magisch zu bannen. Aber das funktioniert allenfalls als Abgrenzung. „Nazis“, das sind die anderen. Aber darin steckt eine Selbstüberhöhung, die unsere demokratischen Werte unterminiert: „Durch moralisches Urteilen verlassen wir die Welt unserer Werte, um anderen Menschen eine Schuldzuweisung, Beleidigung oder Etikettierung überzustülpen. Wir unterstellen jemandem, ‚nicht richtig’ zu sein, weil er nicht unseren Wünschen entsprechend handelt“, sagte Michael Reder, Professor für Völkerverständigung: https://www.sueddeutsche.de/politik/auseinandersetzung-mit-pegida-wir-brauchen-mehr-streit-1.2297685. Es komme zur Frontenbildung: „Konflikte eskalieren, weil die Positionen beider Seiten verhärten“, etwa durch „ausgrenzendes Abkanzeln“. Das bedeutet aber nicht, menschenverachtende, rassistische Äußerungen oder undemokratisches Verhalten zu akzeptieren. Solches Verhalten lässt sich jederzeit auf Augenhöhe kritisieren. Dazu muss es nicht von einem „Nazi“ stammen. Verhalten lässt sich ändern.

Beim „Landtagsstammtisch“ – https://www.facebook.com/events/430869234232639/ – rede ich am 16. Oktober um 21 Uhr mit der Philosophin Roberta Astolfi über den Rechtspopulismus in Italien und darüber, ob wir aus den dortigen Erfahrungen etwas lernen können.

Tief gespaltene Länder wie die USA, Polen oder Ungarn sind Warnung genug. Außerdem sind Rechtsnationalisten wie Trump, Bannon und seine europäischen Konsorten ja nicht die ersten, die mit der Dynamik gesellschaftlicher Spaltungen ihren eigenen Karrieren Schwung verleihen. Deshalb wissen wir alle nur zu gut, dass sich solche Bewegungen spiralförmig beschleunigen und ganz schnell blutig und in der Katastrophe enden können. Mehr denn je gilt folglich: „Wehret den Anfängen!“ Aber anders als früher, als es noch klare Fronten zu geben schien, genügt es nicht, nur das vermeintlich „Böse“ zu markieren, zu benennen und so quasi magisch zu bannen und auszugrenzen. Heute kommt es darauf an, sich frühzeitig ins Getriebe der gesellschaftlichen Abwärtsspirale einzuspreizen und alles zu vermeiden, woraus sie ihren Antrieb ziehen könnte. Das bedeutet, dass nicht nur „die anderen“, also unsere Gegner, aufgefordert sind, „abzurüsten“, sondern auch wir selber alles unterlassen müssen, was gesellschaftliche Spaltungen verhärtet und den öffentlichen Raum mit wechselseitigem Hass auflädt.

„Alternativlosigkeit“ gebiert „Alternativen“

Politik heißt, man muss leider immer wieder daran erinnern: Es gibt Alternativen. Wir haben die Wahl. Wir können was ändern. Das ist für mich der besondere Reiz an Politik. Bis heute aber glauben viele, oder sie tun wenigstens so, als gäbe es „keine Alternative“. Die unsägliche Margaret Thatcher hat schon in den 80er Jahren die Parole ausgegeben: „There is no alternative“. Und auch Schröder und Merkel haben immer wieder behauptet, ihre Politik sei „alternativlos“, egal ob es um Finanzkrise, Bankenrettung, Sozialabbau oder Niedriglöhne ging. Damit wollten sie nicht nur jede Diskussion darüber abwürgen, ob etwas getan werden musste, sondern mehr noch: wie es getan werden konnte. Früher hab ich immer kritisiert, dass das Leugnen möglicher Alternativen den Abschied von der Politik bedeutet. Heute, in Zeiten von Brexit, Trump und AfD, zeigt sich, dass die angebliche Alternativlosigkeit nur zum Ende vernünftiger Politik führt. Denn wer keine echten Wahlmöglichkeiten bietet und erörtert, bereitet für so abwegigen Pseudoalternativen wie die „Alternative“ für Deutschland, „altright“ oder „alternative Fakten“ den Boden. Diese rechtsnationalen „Alternativen“ glauben ihrerseits ebenfalls, dass es nur eine echte Alternative gibt.

„Alternative“ hält sich für alternativlos

Sie hängen der absurden Vorstellung an, es gebe so was wie den einen „wahren Volkswillen“, den man nur entdecken müsse. Alle Populisten, von Trump bis Seehofer, arbeiten mit dieser Fiktion. Da wird unter den Tisch gekehrt, wie unterschiedlich wir sind und wie schwierig es ist, zu einem Gemeinwohl zu finden, das allen gerecht wird. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der vor den Nazis nach Amerika fliehen musste, hat später immer wieder für eine demokratische Streitkultur geworben. Er hat die Illusion von einem einheitlichen Volkswillen als Überbleibsel aus der Nazizeit kritisiert. Eine pluralistische Demokratie wie die unsere zeichne nämlich aus, dass es „einen Bereich des Gemeinschaftslebens gibt, in dem ein Konsens aller nicht besteht, ja nicht einmal bestehen soll: der Bereich der Politik.“ Politischer Streit ist also was Notwendiges und Positives, wenn er nach demokratischen Regeln geführt wird und auf Gemeinsamkeit zielt: https://seppsblog.net/2016/07/07/einigkeit-und-recht-und-streitlust/. Denn unsere gesellschaftliche Entwicklung wird von zwei Trends bestimmt, die wir nur bewältigen können, wenn wir uns nicht vom leeren Versprechen einfacher Lösungen verführen lassen.

Unübersichtlichkeit, Vielfalt und der Hang zur Vereinfachung

Da ist zum einen die Vielfalt, also der gesellschaftliche Pluralismus. Zum anderen aber werden die Aufgaben, vor denen wir in Politik und Gesellschaft stehen, immer komplexer. Auch deshalb können wir sie nicht mehr allein bewältigen. Das gilt für Nationalstaaten, aber es gilt auch für uns einzelne: Selbstbestimmung schafft man heute nicht mehr allein. Der Soziologe Hartmut Rosa formuliert das so: „Die sozioökonomischen Makrobedingungen unseres Handelns und Lebens können nicht von den Individuen als jeweils einzelnen kontrolliert werden. Wenn diese mehr als das zufällige Ergebnis unkontrollierter Kräfte sein sollen, müssen sie durch einen kollektiven politischen Willensbildungsprozess gesteuert werden.“ Das heißt, wenn wir was erreichen wollen, müssen wir uns miteinander auseinandersetzen und uns sozusagen zusammenraufen. Denn, so der Politologe Andreas Dörner, „Pluralismus bedeutet eine Interessenvielfalt, die sich nicht ‚ausdiskutieren’ und in einer gemeinsamen Einsicht aufgrund vernünftiger Argumente aufheben, sondern nur verhandeln lässt.“ Dafür haben wir noch viel zu wenig demokratische Verfahren, aber auch zu wenig Erfahrung damit, unterschiedliche Interessen zu akzeptieren und in einem fairen Ausgleich unter einen Hut zu bringen.

Reden hilft, wenn es um Verstehen geht

Nazi ist ein Nazi ist ein Nazi. Aber wer (noch) kein Nazi ist, aber als Rassist beschimpft wird oder als Depp, wird sich kaum überzeugen lassen. Auch der unter Grünen beliebte Verweis auf fehlende Bildung führt sicher nicht zu Gesprächsbereitschaft bei den Unterklassifizierten. Schimpf- und Schlagwörter, Etiketten und Labels zielen auf Verurteilung, nicht auf Verstehen. Wie es nicht funktioniert, hat Lara Fritzsche in ihrem Erfahrungsbericht im SZ-Magazin sehr plastisch dargestellt: https://blendle.com/i/suddeutsche-zeitung-magazin/kulturschock/bnl-szmagazin-20170120-123280?source=blendle-editorial&medium=twitter&campaign=DE-socialpicks-20170121. Bei ihren Versuchen, mit Ressentiment-Behafteten ins Gespräch zu kommen, wird schnell deutlich, dass es nichts hilft, andere zu verurteilen und einzusortieren. Nur wenn wir herausbekommen wollen, worum es anderen geht, gibt es – beiderseits – eine produktive Öffnung: es kommt zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, bei der man anderen zuhört, ihre Argumente versucht zu verstehen und miteinander zu einem Ergebnis zu kommen. Uns helfen kein Schlagabtausch und keine Belehrung von oben runter, wir müssen auf Augenhöhe miteinander reden und einander zuhören.

Ein ordentlicher Streit macht nicht nur Freude, er kann auch unsere Demokratie lebendig werden lassen. Ein Satz wie dieser ist für manche schwer erträglich. Denn Einigkeit gilt in Deutschland seit Hoffmann von Fallersleben als „des Glückes Unterpfand“. Aber, behauptet Karl-Rudolf Korte, http://www.nomos-shop.de/Korte-Emotionen-Politik/productview.aspx?product=24614, „wenn die öffentliche Debatte fehlt, wenn Leidenschaft und Emotion im Ringen um Positionen verlernt sind, droht die Demokratie zu kippen. Der öffentlich ausgetragene Konflikt und nicht der Konsens stiftet Zusammenhalt“. Das ist natürlich auch überspitzt formuliert. Denn Streit stiftet nur dann Zusammenhalt, wenn man sich zumindest darüber einig ist, dass er nach bestimmten Regeln ausgetragen wird. Offener, fairer Streit schafft Transparenz, aber auch Klarheit darüber, dass Konflikte unvermeidlich sind. So wirkt er auch förderlich auf die Gemeinsamkeit und Einheit, denn offensichtlich besteht bereits ein Konsens darüber, dass erst Streit echte Einigkeit ermöglicht. So gesehen ist demokratisch geführter Streit das Bekenntnis zur Gemeinsamkeit bei Anerkennung unvermeidlicher Vielfalt.

Kompromiss ist Mist – wenn er ohne Streit errungen ist

Vor einem Konsens wie vor einem Kompromiss muss der Streit stehen, d.h. die zivil geregelte Auseinandersetzung über unterschiedlichste, ja gegensätzliche Interessen und Perspektiven. Das hat Heribert Prantl (SZ 2.4.16) unterschlagen, als er „Ein Hoch auf den Kompromiss“ ausgerufen hat. Zweck war erkennbar, neuerdings notwendig scheinenden Viel-Parteien-Regierungen einen theoretischen Unterbau geben. Aber wo soll denn ein prinzipieller Unterschied zu üblichen Zweier- bzw. Dreier-Koalitionen wie jetzt in Berlin sein? In allen Fällen von politischer Kooperation gilt: Fehlt die gegenseitige Anerkennung der Berechtigung der unterschiedlichen Anliegen und Perspektiven, gibt es höchstens ein brüchiges Nebeneinander, kein Miteinander. Dann gilt auch ein Kompromiss zurecht als „faul“, weil er nur rein taktisch vorgenommen wird: Er schuldet sich dem Fakt, dass der selber nichts bekommt, der dem anderen nichts gibt. Dementsprechend führen formelle „Kompromisse“ auf EU-Ebene oder in Großen Koalitionen gerade mit der CSU oft zu „Kuhhandel“ und zu Kostenmehrung: Der „Kompromiss“, also das Zugeständnis an den anderen, wird oben drauf gepackt auf die eigene Beute. Getreu dem von Prantl zitierten Bild Ludwig Erhards vom zu teilenden Kuchen kann man sich gemeinsam ja mehr gönnen.

Konsens zwengs Konsens ist nonsens

Aber das Problem heute ist ja nicht, dass alle denselben Kuchen oder wenigstens ein möglichst großes Stück davon wollen; das Problem ist, dass viele gar keinen Kuchen wollen oder wenigstens den nicht. Es sind heute völlig disparate Bedürfnisse, die sich alle berechtigt wissen. Die müssen auf den gemeinsamen Tisch. Demzufolge fordert Prof. Michael Reder (SZ 11.1.15) „das Gespräch darüber, wie Menschen unterschiedlicher Weltanschauung zusammenleben wollen“. Er will „mehr Streit in Demokratien“: „Wir brauchen kein Verständnis für Leute, die antidemokratisch sind oder ein Bild vom Islam zeichnen, das nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt“, sondern „eine klare Auseinandersetzung, etwa über den Islam und die Positionen von Pegida“. Es brauche, sagt er, „Streit und Abgrenzung von genau diesen problematischen Positionen, damit Demokratie vital ist“. Deshalb ist auch die kategorische Aussage von Winfried Kretschmann „Konsens ist ein Wert an sich“, http://www.taz.de/Debatte-Gruenen-Parteitag/!5254640/, zumindest missverständlich. Selbst die taz, die ihn ja gegen Grüne Kritiker verteidigen will, schränkt ein, dass „zu viel Konsens schadet … Eine lebendige Demokratie lebt von der Differenz. Die Bürger müssen die Wahl haben“. Streit signalisiert eben auch: Es gibt eine Alternative.

Erst kommt der Streit, dann der Konsens

Das vorherrschende Konsens-Prinzip kritisieren viele PolitikwissenschaftlerInnen mit guten Gründen. So sagt Nina Elene Eggers (Korte, a.a.O.): „Das eigentliche Prinzip der Demokratie wird in ihrer derzeitigen konsensuellen Konzeption insofern verfehlt, als dass die (staatliche) Politik dazu tendiert, einen nicht mehr hinterfragbaren Konsens zu etablieren und so das Volk im Namen seiner vermeintlich ‚wahren‘ Interessen stillzulegen.“ Diese Art von Politik gleicht darin der rechtspopulistischer Parteien, die ja bekanntlich auch von einem einhelligen Volkswillen ausgehen – der natürlich nur ihnen bekannt ist. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die gesellschaftliche Vielfalt: Die Ideologie von „dem“ Volkswillen und die dazu gehörige diskriminierende Praxis versuchen sie zu leugnen. Da gibt es keinen Kompromiss. Einen Kompromiss finden, der zu tatsächlichen Lösungen und nicht lediglich zur Vermeidung von Entscheidungen führt, kann man nur mit jemandem, der die Interessen der Gegenseite genauso als berechtigt anerkennt wie das daraus resultierende demokratische Regelwerk. Deshalb überzeugt auch Prantls Kritik nicht, mit der er Kurt Tucholskys Spott über den Kompromiss kontern will. Denn ein noch so „guter Kompromiss“ hätte nicht den „tiefen Riss“ zwischen Demokraten und Verächtern der Demokratie in der Weimarer Republik überbrücken können.

Kein Spiel ohne Regeln

Laut dem Soziologen Norbert Elias liegt das Schlüsselproblem von Zivilisationsprozessen darin, dass Menschen ihre elementaren Bedürfnisse im Zusammenleben mit einander befriedigen, ohne Kosten auf andere abzuwälzen. Das gehe nur durch „Pazifizierung“: die Fähigkeit, gesellschaftliche Konflikte zivil und nach Regeln auszutragen. Als Beispiel dafür nennt er ein parlamentarisches Regierungssystem: Das erfordere einen hohen Grad an Selbstkontrolle. Nur diese Selbstkontrolle hindere „alle beteiligten Individuen daran, Gegner mit Gewaltmitteln zu bekämpfen oder die Regeln des parlamentarischen Spiels zu verletzen“. Im geregelten Streit bestätigt sich die Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt. Am gefühlten Ende der Europameisterschaft noch ein Zitat, zu Erläuterung und Ergötzen: „Ein parlamentarisches Mehrparteiensystem ähnelt in dieser Hinsicht einem Fußballspiel: Es wird gekämpft, aber nach strikten Regeln, deren Beachtung ebenfalls ein hohes Maß an Selbstzucht verlangt. Wenn der Kampf zu hitzig wird, wenn sich das Fußballspiel in eine vergleichsweise regellose Keilerei verwandelt, hört es auf, ein Fußballspiel zu sein.“ Auch deshalb ist Fußball so populär: Weil wenigstens er Emotionen und widerstreitende Interessen zeigt und ermöglicht, aber gleichzeitig auch Verfahren und Fähigkeiten, zivil mit ihnen umzugehen.

Gemeinsamkeit der Demokraten

Dissens muss ausgehalten werden. Deshalb kann sich die viel zitierte „Gemeinsamkeit der Demokraten“ gerade nicht auf politische Inhalte beziehen, sondern nur auf die Verpflichtung, mit Konflikten fair und nach demokratischen Regeln umzugehen. Wer angesichts antidemokratischer Bedrohungen jede „Streiterei“ tabuisiert, erweist unserer Demokratie einen Bärendienst. „Demokraten stehen in Krisenzeiten zusammen“, so interpretiert die taz Kretschmanns Konsens-Diktum. Aber das darf eben nicht das Ende inhaltlicher Auseinandersetzungen und der Entwicklung von Alternativen bedeuten, also auch nicht „für grüne Blümchenprogramme“ (taz). „Die Qualität einer Demokratie“, sagt Korte, „lebt vom öffentlichen Ideenaustausch über alternative Entscheidungswege“. Darum bräuchten wir „mehr Streit, mehr Ideologie, mehr Begeisterung“. Außerdem brauchen wir Gelegenheiten, Orte und Beispiele für gelungene Auseinandersetzungen. Gerade in Zeiten sich abschottender Social Media wirken ideologisch oder sozial abgegrenzte Teilöffentlichkeiten verheerend, weil sie gesellschaftliche Spaltungen verstärken. Dagegen müssen wir dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Vielheiten gemeinsame öffentliche Räume finden: Arenen, in denen sie in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinandertreffen und sich auseinandersetzen können, so dass sich Gemeinsames entwickeln kann.

Rechtspopulisten sind blöd: Da können wir uns schnell drauf verständigen. Für manche sind sie unangenehm, weil sie so plump und ungeniert aussprechen, was sie sich selber noch nicht einzugestehen wagen: Sie schämen sich also noch für ihren rücksichtslosen Egoismus. Andere finden Rechtspopulisten halb so schlimm, es sind ja immerhin keine Rechtsextremen. Doch Rechtsextreme und Rechtspopulisten unterscheiden sich „nur“ in ihrer Radikalität, in der Bereitschaft, für Abwertung und Ausgrenzung auch über Leichen zu gehen. Wo das eine ist, kann das andere noch kommen. Das alles ist nicht wirklich neu. Warum also haben Rechtspopulisten scheinbar auf einmal mehr Zulauf? „Schuldenmisere, Stimmungsmache gegen Zuwanderer, Umfrage-Erfolge der Populisten, fehlende Solidarität“: „in der Sinnkrise“ – http://www.sueddeutsche.de/thema/Mein_Europa – steckt nicht nur Europa, sondern unser Zusammenleben generell. Rechtspopulisten antworten auf Probleme, die wir alle haben.

Dumme Antworten – kluge Fragen
Dass ihre Antworten völlig daneben und unakzeptabel für alle sind, die Menschenrechte und Demokratie für unverzichtbar halten, heißt ja nicht, dass die Fragen und Defizite, die sie aufgreifen, unwichtig oder unzulässig wären. Deshalb bringt es gar nichts, Rechtspopulisten rituell zu verdammen, zu exorzieren oder zu versuchen, sie lächerlich zu machen. „Wer Skeptikern mit der Arroganz der Macht gegenübertritt und nicht bereit ist, in die Niederungen argumentativer Diskussion hinabzusteigen, wird unentschlossene Wähler in die Arme der Populisten treiben“, http://www.sueddeutsche.de/politik/europawahl-debatte-afd-chef-lucke-ueberrascht-mit-unsicherheit-1.1955664. Denn eine falsche Antwort ist vielen Menschen offenbar lieber als keine Antwort, weil sie wenigstens die vorhandenen Defizite nicht ignoriert. Solange es keine besseren, keine demokratischen Antworten gibt, weil sich die Pro-Europäer um die Fragen drücken, geht die Kritik am Rechtspopulismus ins Leere.

Umbruch und Unsicherheit
Unsere Gesellschaft befindet sich in einer Umbruchphase. Fast alle spüren, dass wir „so nicht weitermachen“ können, viele fühlen sich existentiell, ökonomisch, sozial und kulturell, bedroht. Die Entwertung bisheriger Lebensmodelle, Demütigungs-, Ausgrenzungs- und Abkoppelungserfahrungen und vor allem diesbezügliche Befürchtungen führen zu Orientierungslosigkeit und Angst. Das Bedürfnis nach Sicherheit und vermeintlich einfachen, schnellen Lösungen wächst. Rechtspopulisten spielen auf der Klaviatur verankerter Ungleichwertigkeitsvorstellungen, insbesondere rassistischer und antiislamischer Vorurteile. Und sie gerieren sich als die wahren Vertreter „des“ Volkes: Sie tun also, als gäbe es keine pluralistische Vielfalt und keinen Wettstreit unterschiedlichster Interessen, sondern einen Willen des Volkes – den selbstverständlich nur sie kennen und vertreten, anders als die „politische Klasse“, denen sie und die Rechtsextremen Verrat am eigenen Volk vorhalten.

Selbstentmachtung und Sündenböcke
Anders als man nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte meinen konnte, ist die Phase des deregulierenden „Neoliberalismus“, des totalitären, sich alles unterwerfenden Kapitalismus und damit der politischen Selbstentwertung und -entmachtung offenbar noch nicht zu Ende. Im Prinzip geht es um unsere Autonomie, Souveränität, Selbstbestimmung: Sind wir noch Herrin oder Herr in unserem Haus? Wem gehört unser Land? Sprüche wie die vom „Weltsozialamt“, die die AfD genauso draufhat und plakatiert wie NPD und die Anti-Islam-Hetzer – http://www.ecosia.org/search?q=Weltsozialamt –, kehren die derzeitige ökonomische Lage einfach um: Während ganz Europa Deutschland Euroegoismus vorwirft, untergehende Inselstaaten die kapitalistische Lebens- und Produktionsweise für die drohende Klimakatastrophe verantwortlich machen und die wirklich Reichen sich abschotten und jeglicher Verantwortung entziehen, gehen Rechtspopulisten und Rechtsextreme lieber auf die Ärmsten der Armen los.

Demokratie oder Wirtschaftsmacht: Wer bestimmt?
Auf europäischer Ebene haben wir also ein massives Demokratiedefizit. Das betrifft eben nicht nur die europäischen Institutionen und Entscheidungsgremien, sondern vor allem – wie global und in den Mitgliedsstaaten selber – die Souveränität über politische, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Da werden derzeit heftige Kämpfe ausgefochten: „Wie einst nur Bananenrepubliken: Konzerne verklagen immer häufiger auch reiche Staaten, wenn ihnen deren Politik nicht passt“ – http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/investitionsschutz-im-freihandelsabkommen-ttip-europa-vor-gericht-1.1947266: „Es ist ein Vorgeschmack auf das, was die transatlantischen Freihandelsabkommen bringen könnten“. Weil, so heißt es, die Nationalstaaten an Souveränität verlieren, soll Europa helfen. Aber bisher bleibt das vor allem Theorie. Deshalb ist der grassierende Rechtspopulismus nicht einfach dadurch zu erledigen, dass wir ihn zu Recht als menschenverachtend desavouieren. Er bleibt eine massive Kritik an unserer Demokratie. Da muss man dann schon konkret begründen, warum und unter welchen – noch zu schaffenden – Voraussetzungen uns Europa nützt.

Anders, als Möchtegern- oder wirkliche Meinungsführer gern behaupten, gibt es immer eine Alternative, aber vielleicht nicht immer eine lebenswerte. Wir können „so weiter machen wie bisher“, müssen aber wahrscheinlich mit verheerenden Folgen für uns, auf jeden Fall aber für unsere Kinder und Enkel rechnen. Das klassische Motto dafür lautet: Nach uns die Sintflut! Und wer weiß, vielleicht kann das ja – zumindest für einige von uns – „gut gehen“. Wer aber grundsätzlich mit nur einer einzigen Wahlmöglichkeit, also ohne Wahl und damit ohne Freiheit, nicht zufrieden ist oder konkrete Alternativen attraktiv findet, wird unabhängig von vermeintlicher Ausweglosigkeit freiwillig nach neuem suchen. Für mich ist das also keine Frage: „Postwachstum und Peak everything: Erzwungener und freiwilliger Abschied vom fossil geprägten Kapitalismus“ – http://gruene-bag-kultur.de/wp-content/uploads/2014/01/3-Ländertreffen_Nachhaltigkeit_Programm_Stand-20.01.2014_nh.pdf.
Blog: http://buen-viverde.eu/

Krise und Kritik an unserem Wohlstandsmodell
Unser Wohlstandsmodell ist erkennbar in der Krise. Es gibt ein ganz starkes gesellschaftliches Bedürfnis, neue Wege, Modelle, Lebensstile auszuprobieren. Diese Ansätze sind wichtig, weil sie praktische Alternativen aufzeigen und die bisherigen Lebensmodelle von Grund auf kritisieren. Denn die Unzufriedenheit ist groß, aber noch wenig fokussiert. Sogar ein Blatt wie die „Wirtschaftswoche“ spricht seit geraumer Zeit von einer „Wohlstandswende“: „Teilen statt besitzen. Güter gemeinsam zu nutzen und Strom kollektiv zu erzeugen sind neue Megatrends.“ Und der Ökonom Tim Jackson behauptet, „dass Menschen mehr als nur materielle Sicherheit brauchen, um zu gedeihen und ein gutes Leben zu führen. Wohlstand besitzt eine bedeutsame gesellschaftliche und psychologische Dimension.“ Was Lebensqualität bedeutet, fragen sich also sogar die Wirtschaftswissenschaften.

Gegenbewegung: Keine Experimente!
Eine mindestens so starke Reaktion auf die Krise geht allerdings in die andere Richtung: Nichts ausprobieren! Keine Experimente! Wer einen neuen ökologischen Lebensstil führen will, stößt auf viele Widerstände und Widersprüche. Denn das gesellschaftliche und politische Programm setzt nach wie vor auf Konsum und Konkurrenz, Wachstum und materiellen Wohl-stand. Der britische Ökonom Tim Jackson meint über unseren Lebensstil: „Die materiellen Bedürfnisse sind umfassend gedeckt … Aber unsere Lust auf materiellen Konsum ist dadurch offensichtlich nicht kleiner geworden. … Die Lösung des Rätsels ist, dass wir dazu neigen, materielle Dinge mit gesellschaftlicher und psychologischer Bedeutung aufzuladen.“ Es ist unsäglich schwer, täglich bei allen einzelnen Entscheidungen beständig gegen den Strom zu schwimmen. Es ist schwer, weil die Menschen, wenn sie das ökologisch Richtige tun, nicht belohnt, sondern behindert werden. Sie sehen sich Anforderungen ausgesetzt, die einander widersprechen, und fühlen sich deshalb oft orientierungs- und hilflos.

Sackgasse Verbotsdebatte
Dazu passt der partiell erfolgreiche Versuch, die stärkste politische Kraft, die hier auf Veränderungen drängt, nämlich uns Grüne, zu diskreditieren: Die Fragwürdigkeit des dominanten Wirtschafts- und Konsummodells wurde als nicht kritikable, nicht politikfähige Lebensstilfrage abgehandelt, als VeggieDay-Verbotsdebatte. Statt hier dagegen zu halten, distanzieren sich einige Grüne und geloben Besserung als „Freiheitspartei“. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich halte es für richtig und überfällig, unsere emanzipatorischen, freiheitlichen Seiten zu betonen. Ich halte es nur für falsch, den von unseren Gegnern konstruierten Gegensatz zu übernehmen: Denn unsere grüne Kritik an gängigen Praktiken zielt ja gerade darauf, uns allen wieder mehr Freiheits- und Möglichkeitsräume zurückzuerobern. Die Tabuisierung von Verhältnissen als „unkritisierbar“ verschleiert auch, wer davon profitiert, dass sie dadurch als „unveränderlich“ gesetzt werden.

Kritik schafft Freiheit
Der gängige Pfad erweist sich als Sackgasse, deren Ende schon in Sicht ist. Das bis jetzt erfolgreiche kapitalistische Wachstums- und Wettbewerbsmodell trägt totalitäre Züge: Immer wieder wird, wenn es wirklich darauf ankommt, „Alternativlosigkeit“ behauptet. Und den dominanten Ökonomisierungslogiken sind bald alle übrigen menschlichen Tätigkeitsfelder unterworfen, auf Kosten etwa der Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Selbst Privatestes, wie Partner- und Freundschaft oder unsere bloße Körperlichkeit, wird ihnen unterworfen. Theoretische Kritik und die Praxis der neuen Lebensstile verschaffen uns also die Freiheits- und Möglichkeitsräume, die wir brauchen, um aus der jetzigen Sackgasse zu kommen. Denn eine ernsthafte Debatte, eine echte Wahl und damit Politik als Akt der Selbstbestimmung sind nur möglich, wenn Alternativen sichtbar werden.

Es gibt einiges, worüber ich mich regelmäßig aufregen kann, aber wenig ärgert mich so oft wie der Vorwurf „die Politiker“. In so gut wie in jeder öffentlichen Diskussion, in Protestbriefen, Emails oder Tweets: immer soll es die ganze „politische Klasse“ sein, die zur Räson gebracht werden muss. Wenn die pauschale Kritik von „Politikverdrossenen“ kommt, kann ich das noch halbwegs verstehen. Die gehen meist deshalb nicht mehr zur Wahl, weil sie ihre Interessen im Parteienspektrum nicht wiederfinden können. Oder sie halten Politik für eine inhaltsleere Showveranstaltung, entweder weil „die sowieso machen, was sie wollen“, oder weil längst andere, also „die“ Wirtschaft, „die“ Konzerne, „das Kapital“, die politischen Entscheidungen treffen. Wenn jemand soweit resigniert und sich mit der eigenen Ohnmacht abgefunden hat, ist es sehr schwer, ihn noch davon zu überzeugen, dass es Handlungs- und Einflussmöglichkeiten gibt, noch dazu wenn sie sich als mühsam und langwierig erweisen.

Selbstentmachtung ist keine Lösung

Politik ist die einzige Chance, die wir haben, um die Spielregeln zu verändern. Diese Chance ist in der Praxis nicht für alle gleich groß, und wer nur wenig Gelegenheit hatte, Wirkung zu erzielen, unterschätzt leicht seine eigenen Möglichkeiten. Dazu kommt, dass viele politischen Kräfte und insbesondere Regierungen wie die jetzigen in Berlin und in Bayern ihre Potentiale nicht nutzen: Aus politischen Gründen verzichten sie etwa darauf, ökonomische oder soziale Standards einzufordern. Das schwächt das Zutrauen in die Möglichkeiten von Politik genauso wie das Gerede von der angeblichen „Alternativlosigkeit“ von Entscheidungen. Deshalb ist es, wie gesagt, verständlich, auch wenn es eine Fehleinschätzung ist, dass viele die Hoffnung aufgeben, politisch etwas bewirken zu können.

Alternativen benennen

Aber was ich ganz und gar nicht verstehe: Wenn Interessensgruppen, die sich gezielt für politische Veränderungen einsetzen, also beispielsweise Studierende, die gegen Studiengebühren kämpfen, pauschal „die Politiker“ attackieren. Als gäbe es nicht in solchen Fragen unterschiedliche politische Positionen bzw. Mehr- und Minderheiten. Und als wäre es nicht klar, dass, wenn man politisch nur dann etwas erreichen kann, wenn es gelingt, Bündnispartner zu finden und Mehrheiten zu organisieren. Politik besteht darin, Alternativen zu finden, abzuwägen und zur Entscheidung zu stellen. Deshalb verwahre ich mich nicht nur gegen die Behauptungen von „Alternativlosigkeit“, sondern fordere auch, Personen und Parteien präzise zu benennen, die für die eine oder die andere Alternative eintreten. Nur dann ist eine politische Entscheidung und eine Wahl möglich.

Kritik konkret üben

Ich weiß nicht, warum es so schwer ist, die jeweils Verantwortlichen mit Namen zu nennen und ihnen die Verantwortung für bestimmte Entscheidungen und ihre Folgen auch zuzuordnen. Mir ist das im letzten Wahlkampf schon aufgefallen, wie schwer es insbesondere enttäuschten CSU-WählerInnen fällt, an der Partei, die sie bisher bevorzugt haben, Kritik zu üben. Weil sie von der CSU enttäuscht sind, sind sie von „der“ Politik enttäuscht. Als gäbe es keine Alternativen. Aber ich bin nicht bereit hinzunehmen, dass jetzt auch noch andere auf „die Politiker“ schimpfen. Das ist billiger Populismus, der zur Entpolitisierung beiträgt. Denn nur wenn konkrete Entscheidungen von präzise benannten politischen Kräften kritisiert und Vorschläge anderer Gruppen oder Parteien dagegengestellt werden, ist Veränderung möglich. Ich bin gerne bereit, auf Kritik an meiner eigenen Politik oder der meiner Partei zu antworten. Aber ich hab die Nase voll davon, unter „die Politiker“ subsumiert zu werden. Wer von uns als „den Politikern“ spricht, obwohl wir in Sachfragen ganz unterschiedliche Positionen haben, stabilisiert genau die Zustände, die er ändern will.