Archiv

Transformation

Politisches Handeln ist gemeinschaftliches Handeln: Wir verabreden uns, etwas zu tun, oder zielen auf solche Verabredungen, und zwar aus politischen Gründen. Die Philosophin Eva von Redecker hat sich auf der Suche nach dem aus ökologischen und sozialen Gründen nötigen Neuanfang deshalb auf Hannah Arendt berufen: „Aus der Möglichkeit, sich in Meinungsaustausch und Entschlussfassung zusammenzutun, erwächst für Arendt eine menschliche Freiheit (…): gemeinsam mehr zu vermögen als alle Einzelnen zusammen, nämlich zu Neuanfängen fähig zu sein“ – https://www.fischerverlage.de/buch/eva-von-redecker-revolution-fuer-das-leben-9783103970487. Es ist also völliger Unsinn, wenn die Süddeutsche Zeitung wieder mal private Neujahrsvorsätze und politisch nötige Verhaltensänderungen in einen Topf wirft – https://www.sueddeutsche.de/leben/silvester-gewohnheiten-corona-klimakrise-vorsaetze-1.5497106?reduced=true. Das ist an und für sich selbst schon eine politische Praxis, so häufig angewandt wie ideologisch, weil sie die Handlungsmöglichkeiten vom politischen Feld ins Private verschiebt, und damit auch die Verantwortung für das Nichthandeln.

Moral statt Politik: Steine statt Brot

Das passiert meistens nicht nur aus Gedankenlosigkeit, wie vermutlich hier in der SZ, sondern selber aus politischen Gründen. Entpolitisierung ist eine viel genutzte politische Masche, Veränderungsmöglichkeiten zum eigenen Nachteil zu schließen und Veränderungsansprüche anderer abzuwehren – https://seppsblog.net/2019/12/28/entpolitisierungsstrategien-individualisieren-moralisieren-immunisieren/. Mareen Linnartz beschreibt die Wirkung der politischen Corona-Maßnahmen als Beispiel dafür, dass nötige Verhaltensänderungen möglich sind, und zwar relativ zügig: „Offenbar können viele ihr Verhalten anpassen, wenn es die Verhältnisse erfordern.“ Sie beschreibt dies aber nicht als politisches Handeln, dem politische Voraussetzungen zugrunde liegen, sondern um den Spielraum aufzuzeigen, der den Einzelnen offenstehe. Statt um Politik geht es lieber darum, moralischen Druck auf uns Einzelne auszuüben. Allein dass der Artikel zwar der Aufmacher der Wochenendbeilage „Gesellschaft“ ist, aber von der SZ unter der Rubrik „Psychologie“ abgeheftet wird, spricht Bände.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, ein politisches

Der individualistische Einwand – „Aber ich alleine kann doch wenig bis gar nichts bei den anstehenden Umwälzungen ausrichten“ –, meint Linnartz, entbinde keineswegs von „einer persönlichen Veränderungsverantwortung“. Allerdings stünde der die menschliche Verfasstheit als solche im Wege. Wir Menschen sind halt nun mal so. Denn die Neurowissenschaften haben – offenbar völlig überraschend – herausgefunden, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist: „Wenn nun 60 Prozent der Deutschen sagen, sie wollen jetzt klimafreundlicher leben, dann müssten sie sich das größtenteils wie eine gute Gewohnheit angewöhnen, und zwar im Schnitt 66 Tage lang“, sage jedenfalls die Hirnforschung. „Der 67. Tag ist das Ziel – und gleichzeitig die Hürde. Denn neben Selbstdisziplin und Willenskraft braucht es dafür vor allem echt viel Ausdauer.“ Von uns Einzelnen, selbstredend. Ich habe natürlich nichts dagegen, dass jede/r einzelne für sich seine Verantwortung auch im Privaten wahrnimmt und ökologisch schädliche oder unsoziale Gewohnheiten ablegt.

Politisch initiierte Wunder sind möglich

Aber es könnte ja alles auch viel leichter und einfacher gehen. Etwa wenn ökologisch richtiges Handeln belohnt, falsches aber sanktioniert wird. Dafür benennt Linnartz selber gute Beispiele, nicht nur dafür, dass „wenn es viele machen, gesellschaftliche Kipppunkte erreicht werden“, sondern auch für Gründe, die solche vermeintlichen Wunder möglich machen. So könnten die einzelnen jeweils eine persönliche Verhaltensänderung erreichen, wenn sie „66 Tage vor dem Einkauf im Supermarkt daran gedacht haben, eine Stofftasche mitzunehmen – Moment, das machen sie ja inzwischen größtenteils schon, weil Plastiktüten seit einiger Zeit was kosten und ab dem kommenden Jahr schon komplett verboten sind“. Selbst Rauchen in Gaststätten werde nicht mehr „als ein Zeichen von Gemütlichkeit gewertet“, sondern als „ein Angriff auf die Gesundheit aller Anwesenden“. Aber die Veränderung gab es eben nicht, weil die Mehrheit der Raucher*innen aus Einsicht 66 Tage lang bewusst und schließlich aus Gewohnheit auf Zigaretten verzichtet hätte.

Wer politisch handeln will, braucht Klarheit über wirtschaftliche Interessen

Immerhin kommt die Autorin am Ende, nachdem sie uns lang und breit erklärt hat, wie wir erfolgreich „erste individuelle Trippelschritte“ tun könnten, doch noch auf die „größere gesellschaftspolitische Ebene“ zu sprechen: „Der Staat lenkt ja mit seinen Maßnahmen immer auch menschliches Verhalten. Zu lange hat er das nur mit falschen Anreizen gemacht – wenn man beispielsweise an die Pendlerpauschale, Eigenheimzulage und das Baukindergeld denkt.“ Aber wie man von der einen Ebene auf die andere kommt, bleibt ausgeblendet: wie wir Einzelnen den Staat dazu bringen könnten, seinerseits ökologische Verantwortung zu übernehmen, und die jeweils Regierenden von ihren schlechten alten politischen Gewohnheiten abbringen, unökologisches Handeln zu bevorzugen. Das wäre ja dann Politik. Vielleicht gar Parteipolitik. Und dann ginge es nicht lediglich um psychologische Verhaltensmuster, sondern um knallharte wirtschaftliche Interessen und die Frage, wie man, wenn man von diesen nicht profitiert, sondern geschädigt wird, sich gegen solche durchsetzt: im Kampf um das eigene ökologische Überleben. Halt durch gemeinschaftliches, politisches Handeln.

Werbung

Wenn wer nicht ans Ziel kommt, weil er auf dem falschen Weg ist, hilft es nichts, wenn er noch schneller läuft. Auch in der Landwirtschaft würde es schon ein bisschen helfen, das Tempo rauszunehmen. Wenn die Agrarpolitik die Konkurrenz um die billigsten Produktionsverfahren wenigstens nicht mehr anheizen würde, müssten vielleicht ein paar Betriebe weniger sterben. Erst recht natürlich, wenn sie sich vom Niedrigpreisprinzip verabschiedete, wie das der neue Landwirtschaftsminister forderte – https://www.sueddeutsche.de/kultur/cem-oezdemir-fleisch-nahrungsmittelpreise-klima-billig-gruene-landwirtschaft-1.5497309?reduced=true, und neue Produktionsziele ausgäbe, die sich – statt nach quantitativen – nach qualitativen Nachhaltigkeitskriterien ausrichten. Aber bis dahin muss kein Bauer auf die revolutionäre Wende in der europäischen und bayerischen Agrarpolitik warten. Jeder einzelne hat bereits jetzt einen gewissen – auch ökonomischen – Spielraum.

Spielräume nutzen

Selbst bei der gegenwärtigen konventionellen Produktionsmethode wäre weniger mehr. Vielen Arten und Einzelexemplaren würde es helfen, wenn unsere chemiebedürftigen Berufskolleginnen und -kollegen ihre Gifte mit etwas weniger Gründlichkeit auszubrächten und ihre Vorstellung von „Ordnung“ weniger „gründlich“ umsetzten. Es kann mir keiner erzählen, dass bäuerliche Existenzen davon abhängen, dass noch der letzte Quadratmeter bis ins Nachbargrundstück, in Straßenbelag und Bachrand geackert, gespritzt und gedüngt wird. Kein Rain darf stehenbleiben, kein Strauch und kein noch so kleines Fleckchen Unkraut. Dabei konnte doch auch vor dem völligen Sieg von Totalherbiziden, Insektiziden, Nematiziden, Fungiziden etc. die konventionelle Landwirtschaft schon große Erträge erzielen. Aber damals hatten Lebewesen, die nicht als „Schädlinge“ umgebracht werden sollten, noch eine Chance aufs Überleben.

Vorgestern, als es noch Rebhühner gab

Wenn ich vor zwanzig Jahren auf meine Äcker rausfuhr, um beispielsweise Kartoffeln aufzuackern, habe ich auf allen Fluren immer Rebhühner getroffen. Weil sie bei mir ganzjährig viel Futter wie etwa Unkrautsamen fanden. Ich war froh, weil ich schon an die Kartoffelkäfer dachte, die sie mir im Zaum halten würden. Und auf den weiten freien, flachen Feldern waren immer Dutzende von Kiebitzpaaren aktiv; einer brütete, der andere jagte neugierige und bedrohliche Rabenvögel. Das machten sie, wenn es sein musste, gern auch im Geschwader, alle paar Meter stieg ein Kiebitz auf und flog im Sturz- oder Steigflug auf den Raben los und gemeinsam schafften sie es schnell, dass der Rabe die Lust verlor und nicht mehr an eine leichte Beute glaubte. Vor drei Jahren hab ich noch zwei Nester gesehen, zwei Paare und insgesamt zwei Biberl. Letztes Jahr gar nix mehr. Nur noch viele Dutzend Saatkrähen.

Aussortieren von allem, was sich nicht rentiert

Intensivierung der Landwirtschaft bedeutet nicht nur intensivere Nutzung und Monokultur, sondern auch Aussortieren von solchen Flächen, deren Bewirtschaftung sich unter verschärften Konkurrenzbedingungen nicht mehr rentiert. „Muss man alle Fische bewahren – oder nur die, die auch genug Menschen essen wollen?“ frägt die Süddeutsche Zeitung heute – https://www.sueddeutsche.de/politik/streaming-regulierung-netflix-quote-1.5498141 – allen Ernstes auf der ersten Seite. Als ob nur Verwertbares eine Existenzberechtigung hätte. Der Sieg des Rentabilitätsprinzips erzwingt auch das Aussortieren von Bauerhöfen, deren Bewirtschaftung sich nicht mehr lohnt. „Die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Bayern hat seit 1979 von 274.273 um etwa zwei Drittel auf 88.100 im Jahr 2013 abgenommen“, heißt es im Bericht unseres Umweltministeriums vom Mai 2018. Mit den Höfen und den Kulturlandschaften verschwinden zudem viele auf sie angepasste Arten: „Der Rückgang der Bauernhöfe hat Einfluss beispielsweise auf die Populationsdichten von Mehl- und Rauchschwalbe sowie Haussperling in den Dörfern. Mit der Vergrößerung der Betriebsflächen erfolgt oft eine Homogenisierung der Landschaft, es verschwinden Randstrukturen wie Hecken und Säume“. Bauernsterben führt zu Artensterben.

Auch eine ökologischere Landwirtschaft braucht politische Leitplanken

Aber bereits die aktuelle Anzahl der Bäuerinnen und Bauern bzw. der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte insgesamt reicht bei weitem nicht, um eine ökologischere Bewirtschaftung sicherzustellen. Denn dafür müssen die Flächen erheblich vielfältiger und kleinräumiger, die Schlepper und Maschinen erheblich leichter und damit wohl auch weniger schlagkräftig werden. Deshalb wird sich auch die ökologische Landwirtschaft weiter aufspalten: in viele kleinere, arbeitsintensive Betriebe einerseits, in die vermehrt auch außerlandwirtschaftliche Arbeitskräfte, Genossenschaften und ökologisch Überzeugte einsteigen, und andererseits in die die großen, heute schon kapitalintensiven Unternehmen, die auf die digitale technologische Revolution, satellitengesteuerte, vollautomatisierte Arbeitsvorgänge, Pflege- und Ernteautomaten setzen werden, um die nötigen Renditen zu erzielen. Aber dafür braucht es dann erst recht wirksame ökologische Leitplanken der Agrarpolitik.

Wie setzt man politische Veränderungsprozesse in Gang? Indem man oder frau einfach anfängt. Nicht zuletzt im Kampf gegen die Klimakatastrophe stellt sich wieder einmal die Frage, wie Wissen über den Klimawandel in Handeln umgewandelt werden kann. Dabei wird gerne mal behauptet, uns fehlte es nicht an Wissen, sondern an Taten. Aber ich glaube inzwischen, dass wir vielleicht wissen, dass wir etwas tun müssen, dass aber sowohl der Antrieb dazu wie das Wissen, was zu tun wäre, nicht auf der kognitiven, sondern auf der materiellen, der pragmatischen Ebene entstehen: mit Gefühlen, Ausprobieren, Spielen – und schließlich erst mit dem Tun selber, einem ersten, kleinen Schritt. „Am Anfang war die Tat“, stellt Goethe im „Faust“ das Bibelwort vom Kopf auf die Füße: Ohne noch so kleine Tat wird nichts beginnen. Wichtig ist, überhaupt zu beginnen. Wer einmal über das eigene Handeln nachdenkt, es in Frage stellt und zu ändern versucht, kann nur schwer damit wieder aufhören. Ähnlich wie das viele in fast schon krankhafter Weise machen, wenn sie Schritte zählen, den Kalorienverbrauch oder die tägliche Gewichtszunahme, wird auch positiv ein Prozess in Gang gesetzt, wenn die Schleuse vermeintlicher Unveränderlichkeit und Selbstverständlichkeit geöffnet ist.

Veränderung mit demokratischem Vektor

Die Frage, wie Veränderungen möglich werden, beschäftigt in gewisser Weise natürlich auch politische Akteure, die so ganz andere politische Ziele haben als ich, wenn sie etwa daran interessiert sind, Demokratie und Rechtsstaat auszuhöhlen und die politische Vormacht zu übernehmen. Solche sozusagen schwarze Magie beschäftigt mich nur insofern, als ich gelegentlich nach Antworten suchen werde, wie sie in Schranken zu weisen ist. Mein Veränderungsinteresse und -wille ist also eine gerichtete Bewegung, eine Art demokratieorientierter Vektor: schon allein deshalb, weil es um Handlungsmöglichkeiten geht, die für alle gleichermaßen, also ohne Vorrechte für einzelne oder Gruppen, offenstehen, und zum anderen, weil sie sich strategisch von ihren Zielen her definieren, die – werteorientiert – auch die Leitplanken für die Wege und Mittel vorgeben, mit denen sie erreicht werden können: mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie, mehr Nachhaltigkeit. Am Anfang meiner politischen Entwicklung bedeutete Veränderung etwas Positives, einen „Fortschritt“, den Fortschritt. Aber heute ist das nicht mehr automatisch so.

Warlords der Kulturindustrie

Oft genug mussten wir erfahren, dass Fortschritt auch in eine falsche Richtung gehen kann und dass viele Veränderungsprozesse in den letzten Jahrzehnten von Menschen in Gang gesetzt und vorangetrieben wurden, die nicht mehr Gerechtigkeit oder Demokratie, sondern ihre Privilegien sichern und ausbauen und die Verhältnisse noch mehr zu ihren Gunsten ändern wollten. Es hat sich eine ganze Bewusstseins- und Kulturindustrie etabliert, die ihr Geld damit verdient, Veränderungsprozesse voranzutreiben, die wieder zu mehr ökonomischer Ungleichheit und gesellschaftlicher und politischer Hierarchisierung führen. Unternehmer machen Profit, weil sie Gruppen oder Einzelnen dabei helfen, Gesellschaften zu spalten und davon zu profitieren. Wie eine Art kulturindustrieller Warlords beziehungsweise kulturkampferprobte Condottieri nutzen sie Polarisierung und Hetze als Treibstoff ihrer Karrieren. Ihre professionellen manipulativen Techniken führen ebenfalls zu Veränderungen und bringen Menschen dazu, ihr Verhalten zu ändern. Aber sie setzen darauf und funktionieren, weil die Manipulierten nicht bemerken oder nicht bemerken wollen, dass sie manipuliert werden.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, Kritik verändert beide

Demgegenüber setzen wir Grünen unsere Veränderungshoffnungen auf ein kritisches Bewusstsein selbst-bewusster Individuen. Wir arbeiten daran, die Einflüsse und Mechanismen offenzulegen, die auf unser aller bewusste oder unbewusste, explizite oder implizite Entscheidungen für oder gegen Veränderungen einwirken. Wir zielen auf Stärkung, Empowerment, Selbstertüchtigung autarker Individuen: also auf Bürger*innen, die Frauen und Herren ihrer selbst sind. Meine eigene politische Entwicklung fing mit Trotz, Rebellion und Protest gegen „die Verhältnisse“ an. Mein Verlangen nach mehr Gerechtigkeit ist ganz tief in meinen persönlichsten Gefühlen verankert, von meinen sozialen Bedürfnissen geleitet und wird im Zweifel auch von meinem Verstand überprüft und korrigiert. Denn der berühmte Satz von Karl Marx: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ ist ja anders, als viele meinen, kein Urteil, sondern eine Kritik: Wer sich seiner ökonomischen und sozialen Verhältnisse bewusst wird, hat eine Chance, sich aus ihrer Prägung zu lösen.

Politik der guten Laune

Der Kern eines emanzipatorischen politischen Handelns besteht im gerechten, auf Gerechtigkeit zielenden Bestreben, Dinge, Verhalten oder Verhältnisse zu ändern, also Verhältnisse in Bewegung zu bringen. Marx wollte sie sogar „zum Tanzen zwingen“. Das heute verbreitete Bedürfnis nach Veränderung schlägt immer wieder in einen politischen Glauben an ihre Möglichkeit um, in ein „Yes we can“. Ein solches Bedürfnis muss sich spezifizieren, fokussieren, konzentrieren, damit es wirksam, also handlungsrelevant werden kann: in einer Bewegung, Partei, einem Ziel, einer Person. Und dieses Bedürfnis muss einen Teil seiner Befriedigung bereits aus dem Bestreben selber ziehen. Wer tut, was richtig ist, hat selbst bei einem Fehlschlag nicht total versagt. Denn er oder sie hat das seine getan. Mit sich im Reinen zu sein, stärkt das Selbstwertgefühl, und das Richtige kann man auch mit Vergnügen tun. Anders verhält es sich im umgekehrten Fall: Wenn wer nur auf den Erfolg schielt und dafür einiges in Kauf nimmt, bedeutet Scheitern Totalverlust. Wie wir etwas machen, in welchem Zusammenhang und unter welchen Voraussetzungen, kann großen Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg haben. Wenn wir es mit Freude tun, mit Mut und Zuversicht, sind nicht nur unsere Aussichten, sondern auch unsere Laune besser.

Ich kann das Geschwätz nicht mehr hören, dass ein ökologisches Leben nur was für Besserverdienende wäre. Dabei ist mir egal, für wie empathisch und fürsorglich es sich hält. Am Wochenende hat Sophie Passmann in einem SZ-Interview – https://www.sueddeutsche.de/leben/sophie-passmann-interview-feminismus-selbsthass-1.5224512?reduced=true – behauptet, sie kenne „sehr viele Leute, die sich das niemals leisten können“. Umso schlimmer! kann ich da nur sagen. Statt Kritik daran zu üben, dass sich Arme angeblich nur vermeintliches Billigfleisch leisten können, wertet Frau Passmann Bio als „Lifestyle“ ab: „Das ist ja wohl das Mindeste, das man hin und wieder an der Kasse des Biosupermarkts steht und darüber nachdenkt, welche irren Summen man für vernünftiges Essen ausgeben kann.“ Geschwätz bleibt Geschwätz, auch wenn es selbstkritisch daherkommt.

Die Armen weiter „billig“ abzuspeisen ist keine Alternative

Es sind zwei Fragen, die hier sinnlos miteinander verknüpft und deshalb beide nicht gelöst werden können: Wie können wir Lebensmittel so produzieren, dass ihre Erzeugung nicht klima- und umweltschädlich wirkt? Die zweite Frage lautet, wie wir Armen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Sophie Passmann spottet über „irgendein Schmorfleisch für ein halbes Monatsgehalt“. Öko-Konsum sei „eine Frage der finanziellen Mittel, schließlich wird seit Jahren darüber gestritten, wie korrekt man eigentlich konsumieren kann, wenn man wenig Geld hat“. Aber die Alternative kann doch nicht sein, die Armen weiter abzuspeisen mit politisch subventionierten Lebensmitteln, deren Kosten auf die Allgemeinheit und die Zukunft abgewälzt werden, mit verheerenden Folgen für Tiere, Umwelt und Klima.

Teure tierquälerische, umweltzerstörende Lebensmittelproduktion

Das Gezeter darüber, wie teuer etwa ökologische Ernährung für einzelne sei – ja geradezu unbezahlbar –, ignoriert völlig, um wieviel teurer, ja geradezu unbezahlbar die bisher dominante, tierquälerische, klima- und umweltzerstörende Lebensmittelproduktion für uns alle ist und erst recht wird. Gezeter ändert gar nix. Es ist in dem Sinne unpolitisch, insofern es vielleicht dem einzelnen hilft, Dampf abzulassen, aber alles beim Alten belässt: Die Armen bleiben arm, die Tiere und die Umwelt leiden, Frau Passmann behält ihre Privilegien, aber fühlt sich deshalb noch nicht besser. Natürlich hat Sophie Passmann damit Recht, dass es keinen Grund gibt, sich wegen eigener Privilegien und Möglichkeiten für was Besseres zu halten. Aber das heißt doch in erster Linie, dass Moral eben keine brauchbare Kategorie der Politik ist: https://seppsblog.net/2019/12/28/entpolitisierungsstrategien-individualisieren-moralisieren-immunisieren/. Bio ist keine Frage der Moral oder des Lifestyles, von „gut“ oder „böse“ oder „besser zu sein“, sondern darum, ob ein Verhalten, eine Alternative, eine politische Tat richtig oder falsch ist, z.B. im Hinblick auf Klima- oder Tierschutz. Darüber – und vor allem über die zugrundeliegenden Kriterien – lässt sich diskutieren und muss diskutiert werden.

Lob für das Bemühen, das Richtige zu tun

Völlig daneben ist es, Besserverdienenden vorzuhalten, sie würden sich ja nur bio ernähren, um sich von anderen abzuheben. Denn zunächst mal tun sie – im Unterschied zu den anderen Besserverdienenden, die das nicht machen – das Richtige; und da kann es uns allen erst mal egal sein, warum sie das tun. Mir wär recht, wenn alle Besserverdienenden sich darin übertrumpfen wollten, wer sich am ökologischsten ernährt und am klimaverträglichsten lebt, statt wer das exklusivste Auto fährt und sich den größten Spritfresser leisten kann. „Entscheidend ist, dass wir nicht moralisieren, sondern politisch Kritik üben, also nicht die einzelnen mit Schuldvorwürfen und Rechtfertigungszwang isolieren, sondern nach politischen und ökonomischen Zusammenhängen und Alternativen suchen“: https://seppsblog.net/2014/03/14/recht-auf-ein-gutes-leben/. Auch Arme leben auf unserem Planeten. Wer Bioprodukte als für sie unerschwinglich hinstellt, statt nach Wegen zu suchen, wie die beiden Fragen nach einem guten und menschenwürdigen Leben für alle zufriedenstellend beantwortet werden können, trägt dazu bei, dass der Planet weiter verwüstet und für sie noch unbewohnbarer wird.

Für den isländischen Schriftsteller Andri Snær Magnason ist die „Klimakrise ein riesiges schwarzes Loch, so dicht, dass du es nicht wirklich sehen kannst“ – https://www.sueddeutsche.de/leben/gletscher-klimakrise-island-eisbaeren-1.5128555?reduced=true. Aber in der Politik gilt: Nur wer ein Problem wahrnimmt, kann es lösen. Politisch spielt ein Problem nur dann eine Rolle, wenn relevante Akteure es für eins halten. Das bedeutet nicht unbedingt, dass Problemlösung und Problemdefinition auch zusammenpassen, eine richtige Definition automatisch zur Lösung führt oder nicht nebenbei und aus Versehen ein anderes Problem gelöst oder erst geschaffen werden kann. Aber es bedeutet in jedem Fall, dass eine Definition bzw. ein passender Referenzrahmen eines politischen Problems Voraussetzung dafür ist, ob ein Problem überhaupt Gegenstand politischer Überlegungen oder gar politischen Handelns werden kann und schließlich wird.

Referenzrahmen bestimmt Optionen

Der „gesellschaftlich anerkannte“ – also nicht breit umstrittene – Bezugsrahmen entscheidet, ob Arbeitslosigkeit eher als persönliches oder ökonomisch-gesellschaftliches Versagen oder gar als eine Art Gottesurteil gesehen wird. Davon hängt beispielsweise auch ab, ob sie als gesellschaftliche Aufgabe gesehen, mit entwürdigender Mildtätigkeit beantwortet oder politisch ignoriert wird. Nicht zuletzt für die Arbeitslosen selber macht es einen großen Unterschied, ob sie sich im Extremfall mit ihrem persönlichen Versagen abfinden sollen oder politisch aktiv werden und für ihre Gruppeninteressen oder generelle Forderungen nach Gerechtigkeit eintreten können. Ein Problem muss also, damit es politisch relevant wird, so definiert werden, dass es am Ende nicht lediglich als Zustandsbeschreibung, sondern als Handlungsentscheidung bzw. im Idealfall als Handlungsaufforderung erscheint. Deshalb ist es ein so weiter Weg von der wissenschaftlich fundierten Analyse etwa der drohenden Klimakatastrophe zu einem individuellen und erst recht politischen Verhalten, das der daraus erwachsenden Verantwortung halbwegs gerecht wird.

Brennende Klima-Fragen

Die Kluft zwischen Erkenntnis und Handeln kennen wir gerade auch aus unserem persönlichen Verhalten. Da sind wir oft versucht, zu moralisieren und ein Raster von „Gut“ und „Böse“ anzulegen. Erfahrungsgemäß führt das aber nicht dazu, dass wir oder andere das bisherige Verhalten ändern, sondern nur dazu, dass diejenigen, die beurteilt bzw. verurteilt werden, sich schlecht, und diejenigen, die verurteilen, sich besser fühlen – ohne dass sich was ändert. Andri Snær Magnason versucht in seinem jüngsten Buch „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“, diese Kluft anders zu überbrücken. Im SZ-Interview vom 28.11.2020 erläutert er die Dringlichkeit der Klimafrage: „Wir Menschen sind längst eine geologische Gewalt. Wir haben ein riesiges Feuer entfacht.“ Umso fragwürdiger ist für ihn die weitgehend und vor allem im Vergleich zur Corona-Krise fehlende Handlungsbereitschaft. „Wir haben keine Verbindung zu dem, was geschieht, wir begreifen es einfach nicht“, meint Magnason.

Klimakrise im Vergleich zur Corona-Krise

Weil ein handlungsbezogener Referenzrahmen fehlt, fehlt die Einsicht in die Dringlichkeit, anders als in der Corona-Krise: „Stellen Sie sich vor, Greta Thunberg würde sich hinstellen und sagen: Keiner darf mehr ins Konzert oder auf eine Beerdigung wegen des Klimawandels.“ Die Klimakatastrophe entzieht sich als wahrnehmbares Problem einem handlungsorientierten Referenzrahmen, weil wir keine direkten Bezüge herstellen. So fällt sie zum einen aus dem vertrauten zeitlichen Rahmen: „wir scheinen keinerlei Beziehung zur Zukunft zu haben“. Zum anderen übersteigen Geschwindigkeit und Ausmaß des von ihr ausgelösten Veränderungsprozesses scheinbar unsere Vorstellungskraft. „Wir bewegen uns also heute im Tempo nicht mehr nur der Geschichtsbücher, sondern der Geologiebücher“. Mehr noch, das Ausmaß der Veränderungen scheint der Welt der Mythologie zu entstammen: „Keiner der Tyrannen der Vergangenheit, nicht Cäsar und nicht Dschingis Khan, wäre je auf die Idee gekommen, er könne das Wetter manipulieren. Das war immer die Sache der Götter. In der Geschichte bewegst du Nationen und Königreiche. Im Mythos aber bewegst du die Elemente … Da sind wir heute. Wir bewegen die Elemente. Wir lassen die Ozeane ansteigen und die Gletscher schmelzen.“ Aber wir sind uns unserer Gottähnlichkeit nicht bewusst, deshalb werden wir den Folgen unseres Handelns in keiner Weise gerecht.

Wir können und müssen handeln. Jetzt!

Sogar wir Grünen, die wir seit mehr als 30 Jahren vor der Klimakatastrophe warnen, haben unser politisches Handeln nicht immer nach deren Dringlichkeit und Dimensionen ausgerichtet. Darin sind wir nicht allein: „Selbst der Wissenschaftler, der auf die Bühne geht und all das in Worte fasst, der ist sich nicht wirklich bewusst, was er da sagt. Es braucht seine Zeit, bis ein neu geprägtes Wort seinen Platz findet und beginnt, das Handeln der Menschen zu beeinflussen. Und es funktioniert nicht, wenn man den Wissenschaftler allein lässt mit seinen Konzepten. Es muss in Metaphern überführt werden, in die Kultur. … Würde er es wirklich verstehen, er würde laut schreiend herumlaufen.“ Allerdings schreckt Schreien eher ab. Deshalb müssen wir andere Alternativen der Emotionalisierung ausprobieren. „Meine Antwort ist, dass die Konsequenzen unseres Handelns Menschen etwas antun werden, die wir kennen und lieben.“ So oder so müssen wir die drohende Klimakatastrophe als vordringliche gesellschaftliche Aufgabe erkennbar und fühlbar werden lassen.

Zum Jahresausklang bekommen wir regelmäßig und meist unverlangt eine gehörige Portion politischer Moralisiererei. In jüngster Zeit ist die vermeintliche ökologische Scheinheiligkeit der Menschen eines der Lieblingsthemen nicht nur der Predigten des Feuilletons, sondern auch in den Wirtschaftsseiten. „Trotz mieser Öko-Bilanz wurden 2019 so viele SUVs verkauft wie nie“, macht die SZ ihre Titelseite auf – https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zipse-bmw-suv-umwelt-klima-1.4737399 („Auf großer Fahrt“, 28.12.2019): „Das Jahr 2019 war geprägt vom Klimaschutz, vom Nachdenken über Ressourcen und der Debatte um nachhaltigeres Vorankommen per Bahn, Flugzeug und Auto. Im täglichen Handeln war davon aber nichts mehr zu spüren, wie sich nicht nur bei weitgehend gleichbleibenden Passagierzahlen im Flugverkehr zeigt: 1,08 Millionen SUVs und Geländewagen, so viele wie noch nie, wurden bis November hierzulande verkauft“. Die SZ beginnt dann gleich mit der Suche, warum diese beiden Entwicklungen, also mehr ökologisches Bewusstsein und zunehmende Klimazerstörung, sich zwar jeweils beschleunigen, aber so gar nicht zusammenpassen.

Fetisch „kognitive Dissonanz“

Schuld waren natürlich die Verbraucherinnen und Verbrauchern: „80 Prozent der Deutschen befürworten Klimaschutz und wollten weniger Ressourcen verbrauchen“. „Wieso aber liegt dann die durchschnittliche PS-Zahl bei 170?“, fragt der Soziologe Stephan Rammler, gibt aber keine Antwort. Dafür kommentiert er überlegen: „Das ist verlogen, eine kognitive Dissonanz.“ Immerhin hat er ein paar Hinweise, woher diese Dissonanz kommen könnte. Zum einen verweist er darauf, dass diese Fahrzeuge „funktional nicht mehr angemessen sind“, es muss also andere Gründe geben, warum sie „größer werden“. Zum anderen führe die wachsende Größe „nachweislich zu aggressiverem Fahren und dadurch bei den anderen zu mehr Unsicherheitsgefühl“ und zu einer „Spirale der Aufrüstung“ und einer zunehmenden Gefährdung der „ohnehin schwächsten Verkehrsteilnehmer“ wie Radfahrer*innen. Nun haben es Soziolog*innen nicht so gern, dass wir Sterblichen mit der Analyse allein nicht zufrieden sind, sondern handlungsorientiert Politik machen wollen und nach Vorschlägen fragen. Aber auf einen Missstand lediglich hinzuweisen und dann gar noch zu moralisieren, führt zu Zynismus und Stagnation, weil es den Weg zu Alternativen verschließt.

Moral ersetzt keine Analyse

Ein moralisches Urteil, das einer Entscheidung und damit denen, die entscheiden, lautere Grundlagen abspricht, öffnet die Kluft zwischen Kritik und Handeln weiter, statt diese verringernde Brücken zu bauen. Wenigstens verweist der Artikel selber direkt und indirekt auf nachvollziehbare Ursachen für den Boom der SUVs. Denn die Entwicklung ist „gut für die Autohersteller: Viele Kunden finden Größe attraktiv, das treibt die Preise nach oben“. „High-End-SUVs liefern wichtige Gewinne, die in einer Zeit der Transformation hin zur E-Mobilität dringend gebraucht werden“, sagt der „Autoforscher“ Ferdinand Dudenhöffer. Nun werden Gewinne im Kapitalismus ja immer „dringend gebraucht“, aber das Stichwort „Transformation“ hilft schon mal gegen das von Dudenhöffer ebenfalls benannte „Dilemma“: Denn „gleichzeitig baut sich ein soziales Akzeptanzproblem auf“. Selbst der Opel-Chef ist „kein Freund von ganz großen SUVs, sie kommen kaum in die Parkhäuser, das ist gesellschaftlich nicht mehr vermittelbar“.  Und Dudenhöffer ergänzt: „Für das Platzproblem in den Großstädten fehlt die Lösung“. Aber SUVs sind ja gerade eine Lösung für das Problem, dass viele heute um den Platz, der ihnen ihrer Meinung nach zusteht, kämpfen müssen: Ein SUV verschafft sich und seinem Fahrer oder seiner Fahrerin ordentlich Platz.

Diagnose Verbraucherdilemma verdeckt politisches Versagen

Tim Jackson hat sich in „Wohlstand ohne Wachstum“ mit Geltungskonsum auseinandergesetzt, also damit, wie sehr unsere Konsumbedürfnisse vor allem statusgetrieben sind: https://seppsblog.net/2014/02/11/zwischen-zwangen-und-zielen/. Dass diese Karren was hermachen und ordentlich was verbrauchen an Sprit und Platz, ist in der Konkurrenz um Anerkennung und öffentlichem Raum für diejenigen, die sich mit ihnen sehen lassen, ein Vorteil. Es ist ja nicht der einzige gesellschaftliche Konflikt, bei dem „kognitive Dissonanz“ entsteht, bei dem also das, was einzelne politisch für richtig finden, diametral von dem abweicht, was für sie persönlich Sinn macht. Beispielsweise ist ja schon seit vielen Jahrzehnten klar, dass in der Agrarpolitik das Prinzip „Wachsen oder Weichen“ zwar dem einzelnen Bauern hilft, vorübergehend in der Konkurrenz zu bestehen, aber mittelfristig dazu führt, die Konkurrenz weiter zu verschärfen. Deshalb fordert die staatliche einzelbetriebliche Förderung noch immer Wachstum, obwohl Staat und EU schon längst nicht mehr mit den Überschüssen zurechtkommen. Die vermeintliche „kognitive Dissonanz“ ist lediglich eine Reproduktion einer politischen Schizophrenie. Frei nach Rosa von Praunheim ist nicht die Verbraucher*in pervers, sondern die Gesellschaft, in der sie lebt. Solange es also für die einzelnen rational ist, das gesellschaftlich Falsche zu tun, werden moralische Appelle gar nix bewirken.

Immunisieren statt Diskutieren

Nach der Devise „Wenn schon verbohrt, dann richtig“ haben sich offenbar die Autoideologen die Immunisierung gegen jede Kritik („Das wird man ja noch sagen dürfen“, „Meinungsdiktatur“) von AfD und anderen Rechtspopulisten abgeschaut. Die „Premiumhersteller“, schreibt die SZ (mit Kotau vor dem Geltungskonsum), „gehen in die Vorwärtsverteidigung. ‚Die hämische SUV-Debatte ist Panikmache, die nichts mit der Realität zu tun hat“, sagt der BMW-Chef: „In solchen Wagen säßen ‚ganz normale Leute‘ die damit zum Beispiel ihre Kinder sicher zum Sport bringen wollten. Und die wolle er auch nicht umerziehen: ‚Wahlfreiheit ist das Grundprinzip einer Marktwirtschaft‘.“ Kritik am klimaschädlichen Verkaufsprinzip wäre demnach also per se ideologisch und ein Angriff gegen die „Wahlfreiheit“. An solchen Beispielen sieht man, dass der Kampf gegen den Klima- und für einen Kulturwandel erst begonnen hat, aber bereits mit härtesten Bandagen geführt wird. Eine der üblen Maschen, mit denen eine offene, eine politische Debatte verhindert werden soll, ist die Entpolitisierung: Individualisieren von gesellschaftlichen Konflikten, Moralisieren und Immunisieren.

Klima- und Umweltschutz haben es in Deutschland nicht leicht. Da können wir Grünen noch so oft erzählen, dass sie auf Dauer auch ökonomisch unverzichtbar sind. Dafür gibt es allenfalls Zustimmung in schönen Sonntagsreden, aber wenn ökologische Politik konkret werden will, wird bis heute eine Vielzahl ökonomischer oder juristischer Einwände aufgefahren, die jedes Vorhaben erst einmal verzögern oder ganz verhindern. Wie kann es sein, dass sich kurzsichtige wirtschaftliche Interessen so häufig in der Politik durchsetzen? Alle wissen beispielsweise, dass in Deutschland keine Kohle mehr verheizt werden darf, wenn wir einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz leisten wollen. Trotzdem soll der Hambacher Wald mit Hilfe eines erheblichen Polizeiaufgebotes gerodet werden. Beispiele für solche Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln gibt es viele, von Glyphosat bis Dieselskandal. Die simpelste Erklärung ist dann häufig, dass Geld geflossen sei, durch Bestechung oder Parteispenden. Auch das kommt natürlich vor.

Politische Landschaftspflege

„Pflege der politischen Landschaft“ – https://de.wikipedia.org/wiki/Flick-Aff%C3%A4re – betreiben Wirtschaftsgrößen wie Flick offenbar bis heute: http://www.spiegel.de/plus/august-von-finck-und-die-rechten-der-milliardaer-hinter-der-afd-a-00000000-0002-0001-0000-000160960453. Das gibt es im großen Stil und auch im Kleinen. So hat beispielsweise ein Laborunternehmer – https://uaschottdorf.wordpress.com/2014/07/01/justizsystemfehler-fall-schottdorf/ – Stoiber im Wahlkampf 2005 eine Spende von 20.000 € zukommen lassen: „Anliegend übersende ich Ihnen einen Spendenscheck für die CSU in der Hoffnung, dass er mithilft den angestrebten Erfolg zu erreichen und dass jetzt endlich eine Änderung in Deutschland erreicht werden kann.“ Deshalb macht es durchaus Sinn, „den Einfluss des großen Geldes auf die Politik insgesamt zurückzudrängen“ – https://www.lobbycontrol.de/2018/11/die-schatten-finanzen-der-afd-fragen-und-antworten/. Aber Bestrebungen, „Wahlbeeinflussung durch anonyme Großspenden und Querfinanzierungen künftig zu verhindern“, reichen bei weitem nicht aus. „Wirtschaftsfreunde“ in vielen Parteien müssen nicht bestochen werden.

Keine Kapitulation vor Komplexität

Die machen Politik im Sinne jeder Lobby umsonst und freiwillig. Weil „wir alle im selben Boot sitzen“. Wenn die Kanzlerin „in der Finanzkrise auf die falschen Ratgeber aus Banken“ setzt – https://www.aargauerzeitung.ch/wirtschaft/wie-banker-ackermann-einst-kanzlerin-merkel-einseifte-131311787 – oder Ministerien Gesetzentwürfe von Lobbyisten schreiben lassen, dann weil sie dort die ökonomische Expertise vermuten, die sie bei sich vermissen. Bei uns gilt ein Politiker oder eine Partei ja schon als „Wirtschaftsexperte“, wenn er oder sie bereit sind, Kapitaleignern das schnelle Geldverdienen leicht zu machen – auch wenn sie von ökonomischen Vorgängen keinen blanken Schimmer haben. Es ist nur vernünftig, sich von Experten beraten zu lassen. Aber zum einen gibt es keinen Grund, nur auf eine Perspektive zu setzen, zum anderen muss niemand auf seine Urteilskraft verzichten. So wie die CSU-Größen in der Landesbank, die erst dann wissen wollten, welche Art von Produkten die BayernLB mit ihrer Einwilligung gekauft hatte, als es zu spät war: http://www.sepp-duerr.de/finanzmarktkrise-und-bayernlb-wie-weiter-in-der-krise/. Für mich im Untersuchungsausschuss war immer klar: Ich muss kein Finanzexperte sein, um nachzuweisen, dass die Verantwortlichen keine Ahnung hatten und deshalb unverantwortlich handelten.

Lob des Widerspruchs

Kaum jemand macht etwas, das er falsch findet, gern oder erfolgreich, nur weil er dafür bezahlt wird. Auch Politikerinnen und Politiker handeln am liebsten in der Überzeugung, das Richtige zu tun oder wenigstens das am wenigsten Falsche. Aber selbst wer über einen ausgeprägten eigenen Werte-Kompass verfügt, kann leicht unter großen Konsens- und Konformitätsdruck geraten: durch die öffentliche und die veröffentlichte Meinung, Experten- oder Peer-Gruppen, Klientel- oder parteinahe Interessens- oder Wählergruppen. Je weiter die Entfernung zu dem, was wichtige Gruppen als richtig ansehen, desto schwerer wird es, Kurs zu halten. Und umso stärker wird die Angst vor dem Falschfahrer-Syndrom („Was, im Radio sagen sie, einer fährt falsch? Das sind doch viele!“). Um vom „Common sense“ abzuweichen, dem was „man“ für richtig und vernünftig hält und als „gesunder Menschenverstand“ gilt, braucht es nicht nur allerbeste Argumente, sondern Standfestigkeit und vor allem die Überzeugung, dass abweichende Meinungen nicht von vornherein abwegig oder gar überflüssig sein müssen. Wer eine abweichende Meinung vorträgt, muss ja nicht unbedingt Recht haben, um die Debatte und den allgemeinen Erkenntnisfortschritt voranzubringen. Manchmal ist es schon verdienstvoll, scheinbar naheliegende Antworten in Frage zu stellen.

Die Grünen sind die neue Heimatbewegung. Was in unserer direkten Umgebung geschieht, in unserem konkreten Einflussbereich, stand und steht von Anfang und an bis heute im Mittelpunkt unseres politischen Handelns – in unserem eigenen Interesse wie als Hebel für globale Ziele. In der Frühphase unserer Bewegung war noch direkt spürbar, dass wir eine politische Antwort auf die Globalisierung sind. Damals stand unsere Politik unter Slogans wie: „Global denken, lokal handeln“ oder „Aus der Region, für die Region“. Wir Grünen hatten die weltweiten Folgen unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft im Blick und waren gleichzeitig Teil einer modernen Regionalbewegung. Deshalb habe ich wie einige andere über Jahre versucht, für uns den Heimat-Begriff wieder nutzbar zu machen, z.B. auf unserem Grünen Heimatkongress 2011 in Regensburg: http://www.sepp-duerr.de/?p=1551.

Moderner Heimatbegriff

Mittlerweile wird – wie in der übrigen Gesellschaft – der Heimatbegriff auch bei uns Grünen deutlich unbefangener und häufiger eingesetzt, z.B. auf der Tiroler Alpenraumkonferenz: https://www.gbw.at/oesterreich/artikelansicht/beitrag/konferenzprogramm/. Und das ist auch gut so. Denn „Heimat“ als Konzept ist nicht automatisch nazi-braun oder reaktionär-borniert (http://www.sepp-duerr.de/?p=1545). Daran wurde ich jetzt eben wieder erinnert, durch das jüngste Buch von Naomi Klein „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“. Klein wertet zu Recht rein lokale Widerstandsbewegungen in allen Weltteilen als Anfänge einer unerlässlichen „sozialen Massenbewegung“ für einen „Aufbruch in die neue Zeit“: https://seppsblog.net/2015/08/20/naomi-kleins-kreuzzug-gegen-die-klimakatastrophe/. Darin, in diesen lokalen Initiativen mehr als nur bornierten Egoismus zu erkennen, ist sie nicht die erste und einzige.

Lokale Autonomie

Auch Joachim Radkau bemüht sich in seiner umfassenden Darstellung der Umweltbewegung („Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte“, München 2011) um eine Neuentdeckung und Aufwertung des lokalen und regionalen Widerstandes: „Gerade beim weltweiten Überblick wird deutlich, dass es vielen Umweltbewegungen nicht nur um die Umwelt geht. In typischen Fällen spielt auch der Kampf für lokale Autonomie hinein, nicht nur in der Dritten Welt.“ Es geht immer auch um Selbstbestimmung, um Demokratie. Radkau mahnt deshalb zur „Vorsicht mit dem Ehrgeiz, die ‚wahre‘ Umweltbewegung von ‚unechten‘ Umweltbewegungen abzugrenzen. … Vorsicht auch mit der Manier, all jene Bürgerinitiativen, denen es nur um lokale Eigeninteressen geht, abschätzig als NIMBY-Bewegungen abzustempeln: Nichts ist normaler, als dass bei Bewegungen auch eine Portion Egoismus, ob individuell oder kollektiv mitspielt.“ Dies ist ein ungewohnter Ton für manche Grüne und Grünnahe, aber auch für etliche ihrer Gegner.

Idealismus oder Egoismus?

Denn da haben sich einige angewöhnt, nur uneigennützige Weltverbesserer oder, aus umgekehrter Perspektive, weltfremde „Gutmenschen“ sehen zu wollen, d.h. – ob positiv oder negativ gewertet – von materiellen Interessen Unbefleckte oder Unbeleckte. Dabei, das zeigt Radkau an vielen Stellen seines Überblicks, werden Dynamik, Leidenschaft, ja Liebe zu Natur und Umwelt ja gerade erst durch unmittelbare Interessen und persönliche Erfahrung geweckt: „Populär und konfliktfähig ist die Umweltbewegung nicht zuletzt durch derartige Kämpfe für die elementare Lebensqualität geworden“. Radkau geht aber noch einen Schritt weiter. Er will die „Heimatverbundenheit als emotionale Basis von Umweltbewusstsein“ wieder in ihr Recht setzen. Denn anders als viele glaubten, handle es sich nicht um einen missratenen „deutschen Sonderweg“, sondern „eine für weite Teile der Welt typische Verbindung von Umweltschutz und neuem Regionalismus“.

Ohne Gefühl geht nix: Ohne Emotionen keine Wirkung

„Heimatliebe“, „Liebe zur Natur“, persönliches Involviertsein jeglicher Art, das sind wirksame Antriebe: „Die Chance der Umweltpolitik hängt … auch an der Bereitschaft, sich für die Erhaltung der eigenen unmittelbaren Lebenswelt zu engagieren. Es dürfte kaum je einen Fortschritt der Umweltbewegung zu einem ganz und gar universalistischen Denken geben, das jegliche ‚NIMBY‘-Motive definitiv hinter sich lässt.“ In diesem örtlichen Engagement, in der Anteilnahme daran, was vor unserer Hinter- oder Haustür passiert, steckt eben mehr als nur Eigennutz. Darin findet sich auch der Anspruch auf demokratische Teilhabe und Selbstbestimmung, ein Recht darauf, nicht enteignet und abgehängt zu werden. „Ein zukunftsträchtiger Aspekt der Ökologie besteht nicht zuletzt darin“, meint Radkau, „dass sie dem Recht auf Heimat eine rationale Grundlage gibt.“ Heimat wird zur politischen Aufgabe (http://www.sepp-duerr.de/?p=1060): In der Sehnsucht danach bündeln sich verschiedene Grundbedürfnisse: nach Zugehörigkeit und Sicherheit, nach Mitsprache und Selbstwirksamkeit. Deshalb gehören Heimat und Umweltschutz zusammen. Deshalb sind wir Grünen die zeitgenössische Heimatbewegung.

Manchmal vergeht selbst mir die „Lust auf Politik“. Denn meine Freude an der politischen Arbeit hängt auch daran, dass sie mir nicht völlig vergebens erscheint. Da hilft es, wenn man sich die Ziele nicht zu hoch steckt. Als Provinzpolitiker konzentriere ich mich deshalb meist auf überschaubare Provinzprobleme. Aber es gibt Aufgaben, die man sich nicht sucht, sondern die sich selber unübersehbar und unausweichlich stellen – wie die drohende Klimakatastrophe. Nur als Teil einer weltumspannenden grünen Bewegung bleibt man da nicht ohnmächtig und aussichtslos. Aber so viel sich weltweit auch bewegt, es wirkt längst nicht wie eine Bewegung: Die unzähligen verstreuten Initiativen erfahren sich weder praktisch noch theoretisch als Einheit, ja noch nicht mal als von verschiedenen Seiten aus an ein und derselben Aufgabe Arbeitende. Im Gegenteil tendieren Aktive dazu, in ihrem Selbstverständnis das Trennende hervorzuheben: Ohne Abgrenzung scheint keine Standort- und Aufgabenbestimmung möglich. Ein Beispiel dafür ist „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“ von Naomi Klein.

Klimaklassenkampf, Katastrophismus und Kollektivschuld

Dieser Versuch, alte Orientierungsmuster zu reaktivieren, wirkt seltsam aus der Zeit gefallen: Klein bläst zum Klassenkampf und rasselt wieder mit den Ketten, aus denen uns zu befreien nur Erkenntnis helfe. Sie ruft nach den alten Frontstellungen, kann aber – was Wunder – nicht benennen, wo die Linie zu ziehen wäre. So bleiben als diffuse Feindbilder nur die „Fossilindustrie“ und „unsere politische Klasse“. Klein kritisiert mit Recht, „dass unsere Politiker (und Führungskräfte) bislang nichts gegen eine drohende Klimakatastrophe unternommen haben“. Aber gleichzeitig kritisiert sie dafür auch „uns alle“ – ohne dass sie genau benennen könnte, was „wir alle“ falsch machen. Ausgerechnet sie lässt den Konsum als Treibriemen des kapitalistischen Verwertungszwangs außen vor. Sie zitiert sogar Tim Jacksons Wachstumskritik, aber ignoriert die Verbindung zur Konsumkritik. Profitinteressen erkennt sie nur im Hinblick auf die Konzerne, nicht aber darauf, dass sich so gut wie alle Mitglieder kapitalistischer Gesellschaften deren Gesetzmäßigkeiten ebenso sehr freiwillig unterwerfen wie sie unterworfen werden. Deshalb bleibt ihre pauschale Schuldzuweisung an „uns alle“ rein äußerlich und unfruchtbar.

Kleins kluges Lob des Sankt-Florians-Prinzip

Positiv ist ihr auf jeden Fall anzurechnen, dass sie auch die Teile einer globalen grünen Bewegung würdigt, die meist missachtet werden. Sie findet Widerstand in allen Weltteilen und darin die Anfänge einer unerlässlichen „sozialen Massenbewegung“ für einen „Aufbruch in die neue Zeit“. In rein lokalen Widerstandsbewegungen, die andere als Ausdruck bornierten Egoismus von „Wutbürgern“ oder „Nimbys“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Nimby: „Not In My Back Yard (Nicht in meinem Hinterhof). Der entsprechende deutsche Ausdruck lautet Sankt-Florians-Prinzip“) diffamieren, entdeckt sie „ein globales Basisnetzwerk gegen hochristkante extreme Formen der Rohstoffförderung“: „Ob nun der Klimawandel das Hauptmotiv dabei war oder nicht, den lokalen Bewegungen gebührt jedenfalls Lob als CO²-Verhinderer, denn indem sie ihre geliebten Wälder, Berge, Flüsse und Küsten schützen, helfen sie mit, uns alle zu schützen.“ Egoistisch oder nicht, auf jeden Fall verhindern solche lokale Widerstände, dass vorschnell Fakten geschaffen werden und eröffnen Diskussionsräume für eine öffentliche Abwägung widerstreitender Interessen.

Jeder kann sein Scherflein beitragen

Naomi Klein hat ein voluminöses Werk vorgelegt, in dem sie erst mal alle Ansätze und Anstrengungen vor den ihren als gescheitert verwirft und einen beeindruckenden Berg des Versagens vor uns auftürmt: eine Abraumhalde des Scheiterns, Ergebnis von „Jahrzehnten grüner Kumpanei“. Mit ihren eigenen Vorschlägen aber bleibt sie merkwürdig mechanisch und an der Oberfläche, buchstäblich an der Peripherie. Auch wenn der Waschzettel schreit: „Das Manifest der Klimabewegung. Es hat die Kraft, die dringend notwendigen Massen zu mobilisieren, um unseren Planeten zu retten“ und in Großbuchstaben behauptet: „DIESES BUCH ÄNDERT ALLES“, sagt der Spiegel-Bestseller 2015 selber leider nicht, wie.

Ich will nicht denselben Fehler wie sie und sie nur schlecht machen. Denn ich meine, dass jeder Beitrag zählt, sei er noch so klein und scheinbar verschroben. Eine andere Prämisse bleibt mir ja auch gar nicht übrig, wenn ich nicht an der Beschränktheit meiner eigenen bescheidenen Anstrengungen verzweifeln, sondern weiter Lust auf Politik haben will.

Niemand will sich gern von anderen seinen Schweinsbraten madig machen oder gar die Steuervorteile für sein bevorzugtes Partnerschaftsmodell streichen lassen. Aber jede Infragestellung der eigenen Privilegien lauthals als Diskriminierung zu ächten und die eigenen Gewohnheiten so sakrosankt stellen zu wollen, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Wenn bis heute Mehrheiten und potentielle Mehrheitsführer mit ihren Lebensformen werben und sie als selbstverständlich oder sogar als Wettbewerbsvorteil herausstellen, rücken sie andere in die zweite Reihe: Etwa wenn Spitzenkandidaten mit Frau und/oder Kindern in den Wahlkampf ziehen (legendär: „Die Stoibers“) oder sich und ihre Partei in der „Leberkäs-Etage“ verorten. Umgekehrt wird jedes Infragestellen solcher stummen Normen bzw. des Propagieren dessen, was angeblich „normal“ ist, als unmoralischer Tiefschlag und Angriff unter der Gürtellinie gebrandmarkt: Da soll das dann auf einmal ganz privat und dem öffentlichen Diskurs entzogen sein.

Kritik von Lebensformen

Das Buch von Rahel Jaeggi – http://www.suhrkamp.de/buecher/kritik_von_lebensformen-rahel_jaeggi_29587.html – werden vielleicht nicht alle mit reinem Vergnügen lesen. Aber wir sollten uns davon nicht entmutigen lassen und die darin entwickelten Anstöße aufgreifen und erörtern. Denn sie könnten für uns, die wir am dringend nötigen gesellschaftlichen Wandel arbeiten, als Wegweiser und Türöffner äußerst nützlich sein. So greift Jaeggi beispielsweise die hergebrachte Maxime an, über Geschmack lasse sich nicht streiten. Seit den Aufklärern, schreibt sie, „gehört der Wunsch, sich hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens nicht von (philosophischen) Sittenrichtern ‚hereinreden lassen‘ zu wollen, zu den unhintergehbaren Komponenten unseres modernen Selbstverständnisses“. Das scheint uns so unbestreitbar, dass uns allein die Vorstellung, jemand wolle bestimmen, was uns zu schmecken oder zu gefallen habe, schon lächerlich vorkommt. Damit blenden wir in Gänze aus, dass unsere Vorlieben in der Regel nicht nur ganz spezifische gesellschaftliche, wirtschaftliche oder ökologische Folgen, sondern auch entsprechende Ursachen haben.

Das Private ist politisch

Wir wissen längst, dass wir unsere vermeintlich gar so individuellen Neigungen und Präferenzen durch Nachahmung, Gewöhnung, Geschmackserziehung erwerben. Familie und Herkunft generell prägen uns so, dass sich in unseren scheinbar privatesten und persönlichsten Eigenheiten schichten- und gruppenbezogene Distinktionsmerkmale verbergen. Wir signalisieren, wer wir sind, für wen wir uns halten bzw. gehalten werden wollen. Pierre Bourdieu – z.B. http://www.suhrkamp.de/buecher/die_feinen_unterschiede-pierre_bourdieu_28258.html – hat schon vor vielen Jahrzehnten gezeigt, dass selbst Fragen, ob und welches Haustier wir uns halten oder welchen Alkohol wir trinken, Hinweise auf unsere gesellschaftliche Stellung enthalten (sollen) und an die politische Ausrichtung gekoppelt sind. Als Bourdieu diese quasi naturwüchsigen, weil unreflektierten sozialen Mechanismen offenlegte, waren sie schon nur noch eingeschränkt wahr. Denn schon damals waren Heerscharen von Spezialisten der Konsum- und Kulturindustrie damit befasst, derartige Prägungsmuster im Sinne ihrer Auftraggeber zu nutzen und zu manipulieren.

Selbst verschuldete Dummheit

Wenn wir die Entstehungsgeschichte unserer sozialen Praktiken bzw. Lebensformen leugnen, „geraten wir in Gefahr, sie auf unangemessene Weise als gegeben hinzunehmen“. Wir, so Jaeggi weiter, „entziehen damit Themenbereiche der rationalen Argumentation, die man aus dem Einzugsbereich demokratisch-kollektiver Selbstbestimmung nicht herauslösen sollte“. So bleiben wir nicht nur selber absichtlich dumm bzw. in der legendären selbst verschuldeten Unmündigkeit, sondern auch kollektiv, weil wir uns über wichtige Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens nicht verständigen. Wenn wir diese „privaten“ Bereiche künstlich remystifizieren als „natürlich“, überlassen wir sie damit den interessierten Fingern anderer zur Manipulation nach deren Vorgaben. Denn, darauf verweist Jaeggi, „die ethische Frage, ‚wie zu leben sei‘, lässt sich aus den Prozessen individueller, aber auch kollektiver Willensbildung gar nicht so leicht ausklammern. Sie ist in jeder gesellschaftlichen Formation implizit oder explizit immer schon beantwortet.“ Das bedeutet, wer sich dieser Frage nicht bewusst stellt, lässt andere entscheiden. Umgekehrt ist es für uns, die wir das Vorgefundene nicht einfach als gegeben hinnehmen können, sehr hilfreich, dass sich damit die Tür zur Kritik an sozialen Praktiken bzw. Lebensformen öffnet.

Nichts ist über jede Diskussion erhaben

„Über Lebensformen lässt sich streiten, und zwar mit Gründen streiten.“ Und wir müssen gerade deshalb streiten, weil die Lebensformen der anderen unsere eigenen dominieren wollen: „Mit Lebensformen sind Geltungsansprüche impliziert“, sie zeichnet laut Jaeggi gerade aus, dass sie beanspruchen, die angemessene Lösung für eine konkrete Situation zu sein – und damit andere Praktiken diskriminieren. Und, was oft unterschlagen wird, sie erfordern „politisch-ökonomische Rahmenbedingungen. Schon die Existenz von Einfamilienhäusern hängt ab von institutionellen (und politisch verfassten) Bestimmungen, wie Bebauungsplänen oder der staatlichen Eigenheimförderung; das familiäre Leben mit Kindern ist geprägt von der Existenz oder Nichtexistenz öffentlicher Betreuungseinrichtungen“ etc. Es gibt also gute Gründe, vorherrschende soziale Praktiken nicht als gegeben zu akzeptieren, sondern kritisch zu stellen. Wenn wir sozial- und klimaverträgliche, weltweit verallgemeinerbare Lebensformen finden wollen, müssen wir über vermeintlich private, persönliche Geschmacksfragen – wie z.B. Essgewohnheiten http://www.euractiv.de/sections/entwicklungspolitik/wwf-studie-ernaehrung-befeuert-klimawandel-und-umweltzerstoerungen-0 – öffentlich streiten.