In der Geschichte der „Völkerwanderung“, also der Zeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter, ist das erstmalige Auftauchen der „Bayern“ buchstäblich nur eine Randnotiz. Der Althistoriker Mischa Meier erzählt auf über 1100 Seiten die „Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr.“ (München 2019). Gerade mal vier Seiten braucht er dabei, um „Von den Anfängen Bayerns“ zu erzählen. Mehr ist nicht nötig, weil der „Ursprung der Bayern“, über den viele Historiker- und Politikergenerationen gerätselt und geraunt haben, völlig zeittypisch ist, d.h. nichts Besonderes. „Nicht zum ersten Mal im ‚Völkerwanderungs‘-Kontext ist die Frage nach der Herkunft eines Verbandes auch für die Baiuvarii falsch gestellt, da sie unmittelbare Migrations- und ‚Landnahme‘-Assoziationen hervorruft, die dem Entstehungsprozess der Gemeinschaft nicht gerecht werden“, stellt Meier klar.
Bayern ist kein Einwanderungsland
Diese apodiktische Aussage hat die CSU in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wie ein Mantra vor sich und uns hergebetet. Und auch wenn diese ideologische Behauptung in völligem Gegensatz zur heutigen Wirklichkeit steht, für die bayerischen Anfänge trifft sie tatsächlich zu. Die „Baiuvarii“ sind nicht als geschlossenes Volk und fertige politische Einheit von irgendwo her eingewandert, aus Böhmen oder sonstwo, sondern sie waren schon längst da, als sie sich unter diesen Namen selbst entdeckten. „Ethnogenese“ nennt Meier das, wenn Menschen völlig verschiedener ethnischer und regionaler Herkünfte sich in einem „Volk“ zusammenfinden. Kristallisationspunkte waren erfolgversprechende Anführer, mit denen bunte Trupps auf Beutezug gingen, und zwar vorzugsweise da, wo es etwas zu holen gab, nämlich im römischen Reich. Gemeinsame Erfahrungen – vorzugsweise Siege, aber zur Not auch Niederlagen – schweißten dann die unterschiedlichsten Gruppen zusammen, zumindest so lang das Erfolgsversprechen glaubwürdig blieb, wie z.B. bei den Hunnen unter Alarich.
Unter fränkischer Herrschaft formt sich das bayerische Volk
Ähnlich sieht Meier die „Herausbildung der Baiuvarii zunächst einmal als Manifestation politischer (nicht ethnischer) Identitätsbildung“. Den – buchstäblichen – Raum dafür haben ausgerechnet Franken geschaffen. Denn lustigerweise war die erste Voraussetzung dafür eine Gebietsreform. Maier zufolge „bestand für die Bevölkerung im östlichen Raetien und westlichen Noricum der entscheidende Schritt in der Auflösung der römischen Provinzstruktur durch die Merowinger […] sowie in der Umwandlung der Region in einen eigenständigen Militär- und Verwaltungsbezirk, der als Dukat (‚Herzogtum‘) den Mitgliedern einer angesehenen fränkischen Familie, den Agilolfingern, zur Betreuung übergeben wurde“. Das kommt einem irgendwie bekannt vor. Genauso die zweite Voraussetzung, nämlich der Spielraum, den die neuen Herrscher für regionale Identitäten ließen. Denn sei es „eine grundsätzliche Stärke der fränkischen Herrschaft, nicht nur auf lokaler, sondern auch auf regionaler Ebene Rücksichten zu nehmen und die Ausbildung von Eigenidentitäten großzügig zuzulassen.“ Erst in diesem politischen Raum konnte neues entstehen.
Bayerischer Topf unter fränkischem Deckel
Fränkische Herrschaft schuf einen Topf, in dem bayerische Herrscher, erst die Agilolfinger und Jahrhunderte später die Wittelsbacher, sich ein Volk anrühren ließen: ein Prozess, „der im Ergebnis zur Ausprägung einer bayerischen Identität innerhalb der heterogenen, einerseits reströmischen, andererseits aus verschiedenen Kontexten zugewanderten Bewohnerschaft des ostraetischen und westnorischen Alpenvorlandes – im heutigen Bayern gelegen – geführt haben muss. Auch hier stand am Beginn die Einsetzung eines dux“. Dass die Herrschaft möglichst in der Familie blieb, war damals der Normalfall, aber Vererbung auf Kinder blieb selten. „Die Erblichkeit des agilolfingischen Herzogtums jedenfalls mag den nun allmählich einsetzenden Identitätsbildungsprozess in seinem Gebiet befördert haben, insofern offenbar bald eine enge Ausrichtung der ansässigen Bevölkerung auf die weitgehend unabhängige, ja königsgleiche Herrschaft der Herzöge erfolgte“, schreibt Meier. Entscheidend war der Vorgang aktiver Identifizierung, zunächst mit dem Anführer, dann mit dem politischen Raum.
Mia san mia – weil mia das wollen
Fremdzuschreibungen waren in diesem Fall Ergebnis von Selbstidentifikationsprozessen: „Baiuvarii waren demzufolge zunächst schlicht alle jene, die sich politisch zu den Agilolfingern bekannten; erst im Verlauf der Jahrzehnte durchlief die Bezeichnung einen Nachethnisierungsprozess, um schließlich alle Bewohner des Herzogtums zu umfassen, unabhängig von ihrer Herkunft. Als diese Entwicklung zu ihrem Ende gekommen war, galten als Baiuvarii jene Personen, die im territorial definierten Geltungsbereich der Lex Baiuvariorum, die bezeichnenderweise keine ethnischen Differenzierungen vornimmt, geboren wurden.“ Das „Volk“ der „Bayern“ ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern es hat sich selber politisch geformt. Eine zunächst politische Gemeinschaft wurde erst später ethnisiert und sollte dann mit Abstammungslehren bei der Stange gehalten werden. Heute ist längst wieder der umgekehrte Prozess im Gang: Weil wir Bayern sein wollen, egal woher wir kommen und wie wir angeblich sind, san mia mia.