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Bayern

Der Landtagswahlkampf wird für die bayerischen Grünen nicht einfach, jedenfalls nicht, wenn sie gewinnen wollen, sprich: die Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung schaffen. Für ein viele halbwegs befriedigendes Ergebnis, also leichte Verluste auf hohem Niveau, reicht es auch, wenn mensch so weiterwurstelt wie bisher; wenn mensch also entweder keine Strategie hat oder sich nicht dranhält. Ein Jahr vor der Landtagswahl sollten die Wähler*innen langsam schon was merken von einem Gestaltungswillen, davon, welche Ziele den Grünen besonders wichtig sind, die sie in den nächsten fünf Jahren umsetzen wollen. Sie sollten Vertrauen fassen und glauben können, wie die Grünen diese Ziele umsetzen wollen, ohne Chaos anzurichten. Sie sollten allmählich erkennen, dass nur die Grünen die ökonomischen und ökologischen Voraussetzungen unseres Wohlstands ohne allzu große Verluste und mit großen Zugewinnen an Lebensqualität umgestalten können.

Stadt wie Land: überall Grüne

Natürlich brauchen wir, anders als vielleicht noch vor etlichen Jahren, eine einheitliche Botschaft für Stadt und Land. Denn da wohnen die gleichen grünaffinen Leute. Unsere Zielgruppen sind im ganzen Land, und zwar noch im abgelegensten Dorf, ökologisch interessiert, klimabewusst und täglich im Einsatz für ein menschenwürdiges Zusammenleben mit allen, die hier wohnen. Wir haben überzeugende, seit jeher in ihrer Region verankerte, ihre Region liebende, von ihren Regionen anerkannte Multiplikator*innen, egal ob ganz hinten im Bayerischen Wald, im Rottal oder ganz oben in Erlenbach und Obernburg im Landkreis Miltenberg. Die wollen von uns auf Augenhöhe angesprochen werden und erwarten ganz konkrete Hilfen, wie sie ihre Heimat lebendig erhalten können. Vieles wissen sie selber, ihnen fehlen im Vergleich zur Stadt nur die Mittel.

Geschlossenheit ist die halbe Miete

Entscheidend ist wie immer die Geschlossenheit. „Wahlerfolge und demoskopische Konjunkturen korrelieren in verblüffendem Maße mit perzipierter Geschlossenheit“, schreiben Joachim Raschke und Ralf Tils in „Politische Strategie“, Wiesbaden 2007: „Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit sind Messlatten der Bürger, mit denen sie vor einem etwaigen Regierungswechsel einzuschätzen versuchen, was sie von den Versprechungen der Oppositionsparteien zu halten haben. Glaubwürdigkeit misst die Wahrscheinlichkeit, dass die Politiker sagen, was sie denken, und tun, was sie sagen. Geschlossenheit ist ein Indikator für Handlungsfähigkeit.“ Aber daran ist nichts „verblüffend“. Wie sollen wir denn die Bürger*innen von unserer Politik überzeugen, wenn wir selbst uns darüber uneinig sind. Und welche Politik wollen wir umsetzen, wenn wir uns in zentralen Fragen nicht verständigt haben? Deshalb ist auch ein enger Schulterschluss mit Berlin unerlässlich: es muss klar sein, dass es auf allen Ebenen nur eine grüne Linie gibt. Dann wissen die Menschen, was sie von uns erwarten dürfen.

Klare Kante gegen Rechtsextreme

Was man sicher von uns erwartet, ist ein unverwechselbarer gesellschaftspolitischer Kurs. Wenn Söder tatsächlich so dumm sein sollte und den Schwenk zurück macht zu konservativer bis reaktionärer Politik – https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-csu-soeder-umfragen-1.5662278?reduced=true, spielt uns das in die Hände. Damit hat er schon einmal vor fünf Jahren fast Schiffbruch erlitten – https://ausgehetzt.org/ausgehetzt/ – und gerade noch in letzter Minute die Kurve gekratzt. Wer sich auf die eigene Klientel konzentriert, macht heute Minderheitenpolitik. Das gilt auch für die ehemalige Mehrheitspartei CSU. Dann können bei uns auch in diesem Wahlkampf selbst strategisch weniger Begabte oder politische No-names und No-hows Erfolge erzielen, wenn sie einigermaßen auf Linie bleiben. Leider hilft das auch der AfD. Wir haben jetzt oft genug erlebt, dass sie da stark wird, wo Konservative versuchen, sie mit rechtspopulistischer Politik zu überholen. Seit Jahren schlechtes Beispiel dafür ist Sachsen. Wenn umgekehrt alle klare Kante zeigen, wie etwa in Schleswig-Holstein, wird die AfD pulverisiert – https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/landtagswahl_2022/Endergebnis-CDU-gewinnt-Landtagswahl-in-SH-mit-434-Prozent,landtagswahl4246.html.

Klarheit schafft Vertrauen

Gleichzeitig müssen wir den Menschen Vertrauen einflößen, dass wir die Veränderungen managen können. „Menschen gewinnt man nicht für Veränderungen, bloß weil man ihnen sagt, sie bräuchten keine Angst zu haben. Stattdessen vergrößert man ihre Unsicherheit und Orientierungslosigkeit“ – https://seppsblog.net/2021/08/29/gegen-angste-hilft-kein-ruf-nach-mut-nur-klarheit/: „Wer Vertrauen wecken will und Ängste nehmen, muss klar und deutlich sagen, nicht nur wie die Ziele, sondern wie die nächsten Schritte genau aussehen sollen. Und was das für jede und jeden einzelnen bedeutet.“ Deshalb müssen wir in unseren Aussagen eindeutig und einhellig bleiben, auf verblasene Rhetorik verzichten und möglichst konkret werden sowie erfolgreiche Beispiele anführen.

Kampf um Direktmandate Bei der Landtagswahl im nächsten Jahr werden die Karten neu gemischt, und zwar in jedem Stimmkreis. Da werden die Kandidati*innen schon mehr machen müssen als nur einen grünen Eindruck. So manches Münchner Direktmandat verdankt sich nur der Schwäche der CSU und einem allgemeinen grünen Hype. Umgekehrt ist schwer vorstellbar, dass ländliche Stimmkreise wie Weilheim/Schongau oder Bad Tölz-Wolfratshausen/Garmisch einen Kandidaten hätten nach München schicken können, wenn nicht solche, für die Stimmkreise wie geschnitzte Pfunde angetreten wären. So einheitlich das Vorgehen auf Landesebene sein muss, so differenziert muss die Stimmkreis-Arbeit sein. Und die zentrale Frage dabei lautet, ob der jeweilige Stimmkreis sich eignet für einen Kampf ums Direktmandat: Ist die Wählerschaft dafür da? Gibt es eine geeignete Kandidat*in? Wenn nein, dann darf mensch sich ruhig auch etwas ökologisch radikaler äußern und die grüne Nische ausschöpfen. Wenn aber ja, dann ist es wichtig, einen Mehrheitswahlkampf zu führen, also einen, der nicht allein auf die grüne Klientel abzielt. Dann hat mensch so oder so beste Aussichten, im nächsten Herbst in den Landtag zu kommen.

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In der Geschichte der „Völkerwanderung“, also der Zeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter, ist das erstmalige Auftauchen der „Bayern“ buchstäblich nur eine Randnotiz. Der Althistoriker Mischa Meier erzählt auf über 1100 Seiten die „Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr.“ (München 2019). Gerade mal vier Seiten braucht er dabei, um „Von den Anfängen Bayerns“ zu erzählen. Mehr ist nicht nötig, weil der „Ursprung der Bayern“, über den viele Historiker- und Politikergenerationen gerätselt und geraunt haben, völlig zeittypisch ist, d.h. nichts Besonderes. „Nicht zum ersten Mal im ‚Völkerwanderungs‘-Kontext ist die Frage nach der Herkunft eines Verbandes auch für die Baiuvarii falsch gestellt, da sie unmittelbare Migrations- und ‚Landnahme‘-Assoziationen hervorruft, die dem Entstehungsprozess der Gemeinschaft nicht gerecht werden“, stellt Meier klar.

Bayern ist kein Einwanderungsland

Diese apodiktische Aussage hat die CSU in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wie ein Mantra vor sich und uns hergebetet. Und auch wenn diese ideologische Behauptung in völligem Gegensatz zur heutigen Wirklichkeit steht, für die bayerischen Anfänge trifft sie tatsächlich zu. Die „Baiuvarii“ sind nicht als geschlossenes Volk und fertige politische Einheit von irgendwo her eingewandert, aus Böhmen oder sonstwo, sondern sie waren schon längst da, als sie sich unter diesen Namen selbst entdeckten. „Ethnogenese“ nennt Meier das, wenn Menschen völlig verschiedener ethnischer und regionaler Herkünfte sich in einem „Volk“ zusammenfinden. Kristallisationspunkte waren erfolgversprechende Anführer, mit denen bunte Trupps auf Beutezug gingen, und zwar vorzugsweise da, wo es etwas zu holen gab, nämlich im römischen Reich. Gemeinsame Erfahrungen – vorzugsweise Siege, aber zur Not auch Niederlagen – schweißten dann die unterschiedlichsten Gruppen zusammen, zumindest so lang das Erfolgsversprechen glaubwürdig blieb, wie z.B. bei den Hunnen unter Alarich.

Unter fränkischer Herrschaft formt sich das bayerische Volk

Ähnlich sieht Meier die „Herausbildung der Baiuvarii zunächst einmal als Manifestation politischer (nicht ethnischer) Identitätsbildung“. Den – buchstäblichen – Raum dafür haben ausgerechnet Franken geschaffen. Denn lustigerweise war die erste Voraussetzung dafür eine Gebietsreform. Maier zufolge „bestand für die Bevölkerung im östlichen Raetien und westlichen Noricum der entscheidende Schritt in der Auflösung der römischen Provinzstruktur durch die Merowinger […] sowie in der Umwandlung der Region in einen eigenständigen Militär- und Verwaltungsbezirk, der als Dukat (‚Herzogtum‘) den Mitgliedern einer angesehenen fränkischen Familie, den Agilolfingern, zur Betreuung übergeben wurde“. Das kommt einem irgendwie bekannt vor. Genauso die zweite Voraussetzung, nämlich der Spielraum, den die neuen Herrscher für regionale Identitäten ließen. Denn sei es „eine grundsätzliche Stärke der fränkischen Herrschaft, nicht nur auf lokaler, sondern auch auf regionaler Ebene Rücksichten zu nehmen und die Ausbildung von Eigenidentitäten großzügig zuzulassen.“ Erst in diesem politischen Raum konnte neues entstehen.

Bayerischer Topf unter fränkischem Deckel

Fränkische Herrschaft schuf einen Topf, in dem bayerische Herrscher, erst die Agilolfinger und Jahrhunderte später die Wittelsbacher, sich ein Volk anrühren ließen: ein Prozess, „der im Ergebnis zur Ausprägung einer bayerischen Identität innerhalb der heterogenen, einerseits reströmischen, andererseits aus verschiedenen Kontexten zugewanderten Bewohnerschaft des ostraetischen und westnorischen Alpenvorlandes – im heutigen Bayern gelegen – geführt haben muss. Auch hier stand am Beginn die Einsetzung eines dux“. Dass die Herrschaft möglichst in der Familie blieb, war damals der Normalfall, aber Vererbung auf Kinder blieb selten. „Die Erblichkeit des agilolfingischen Herzogtums jedenfalls mag den nun allmählich einsetzenden Identitätsbildungsprozess in seinem Gebiet befördert haben, insofern offenbar bald eine enge Ausrichtung der ansässigen Bevölkerung auf die weitgehend unabhängige, ja königsgleiche Herrschaft der Herzöge erfolgte“, schreibt Meier. Entscheidend war der Vorgang aktiver Identifizierung, zunächst mit dem Anführer, dann mit dem politischen Raum.

Mia san mia – weil mia das wollen

Fremdzuschreibungen waren in diesem Fall Ergebnis von Selbstidentifikationsprozessen: „Baiuvarii waren demzufolge zunächst schlicht alle jene, die sich politisch zu den Agilolfingern bekannten; erst im Verlauf der Jahrzehnte durchlief die Bezeichnung einen Nachethnisierungsprozess, um schließlich alle Bewohner des Herzogtums zu umfassen, unabhängig von ihrer Herkunft. Als diese Entwicklung zu ihrem Ende gekommen war, galten als Baiuvarii jene Personen, die im territorial definierten Geltungsbereich der Lex Baiuvariorum, die bezeichnenderweise keine ethnischen Differenzierungen vornimmt, geboren wurden.“ Das „Volk“ der „Bayern“ ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern es hat sich selber politisch geformt. Eine zunächst politische Gemeinschaft wurde erst später ethnisiert und sollte dann mit Abstammungslehren bei der Stange gehalten werden. Heute ist längst wieder der umgekehrte Prozess im Gang: Weil wir Bayern sein wollen, egal woher wir kommen und wie wir angeblich sind, san mia mia.