Vermutlich wurde noch nie so viel geredet wie heute. Allenfalls höfische Zirkel könnten da noch mithalten, zu Zeiten als Wortgefechte Taten ersetzen mussten und Bonmots noch töten konnten. Aber das heißt nicht unbedingt, dass bei uns genug miteinander geredet wird. Formate wie Talkshows, Twitter oder Facebook begünstigen eher den Schlagabtausch als den Austausch von Argumenten und Abgleich von Standpunkten. Und wenn es einem zu viel wird, wechselt man halt schnell das Format. Wer regelmäßig ins Vereinsheim oder zum Wirt geht, kann das nicht so einfach. Zwar treffen sich am Stammtisch auch nur „die, die immer da sitzen“. Doch es sind in der Regel höchst unterschiedliche Personen, die sich im öffentlichen oder halböffentlichen Raum begegnen und auseinandersetzen. Da sind Konfrontationen unausweichlich, mit anderen Meinungen oder Menschen, denen wir uns nicht ohnehin zugehörig fühlen. Logisch, dass da auch mal unversöhnliche Positionen aufeinanderprallen. Damit muss man dann zurechtkommen.
Die Luft wird dünn über den Stammtischen
Stammtische sind in Bayern vorpolitischer Raum und damit politisch umkämpftes Gelände. Insbesondere die CSU erhebt den Anspruch auf „die Lufthoheit über den Stammtischen“. In seiner Studie über „Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung“ von 2004 hat Andreas Kießling herausgearbeitet, wie sehr schon Stoiber populistische Kampagnen nur zu diesem Zweck betrieben hat. Aber heute orientiere sich die CSU um, erklärt Peter Müller in seiner Analyse von 2016, „Der Machtkampf. Seehofer und die Zukunft der CSU“: „Die Bindekraft des Stammtisches schwindet“. Die CSU setze deswegen inzwischen „für das Gespräch mit dem Bürger“ auf Social Media, denn, so Partei-Geschäftsführer Strepp: „Immer weniger Leute gehen nach der Kirche zum Stammtisch. Strepp zitiert den Werbespruch eines amerikanischen Fernsehanbieters: Gebt es den Leuten, wann, wo und wie sie es wollen.“ Natürlich kann man mit den Menschen nur da reden, wo sie sich auch aufhalten. Aber Kommentare, Posts und Likes sind bestimmt kein vollwertiger Ersatz für ein tatsächliches Gespräch und echte Debatten.
Ende der Selbstverständlichkeiten
Die Bindekraft des Stammtisches ist ja nicht das einzige, das schwindet. Der Zerfall der bayerischen Parteienlandschaft lässt sich auch als europäische Normalisierung und als nachgeholte Modernisierung begreifen: Auch unsere scheinbar so geschlossene Gesellschaft hat sich längst ausdifferenziert; bislang gleichsam „naturwüchsige“ Selbstdefinitionen oder Zugehörigkeiten wie „Nation“, „Klasse“ oder „Schicht“, „Geschlecht“ und „Familie“ haben jede Selbstverständlichkeit verloren, und damit schwächen sich auch bisher scheinbar automatische parteienspezifische Bindungen ab. Identitäten und Gemeinsamkeiten müssen heute gezielt hergestellt werden, von den jeweils einzelnen, von Gruppen oder auch Parteien. Solche offenen Diskussions- und Selbstdefinitionsprozesse können allerdings nur gelingen, wenn alle Teilnehmer die jeweilige Unterschiedlichkeit und die Form demokratischer Selbstorganisation als unstrittig akzeptieren. Andreas Dörner nennt das „die elementare Diversität von Interessen in pluralen Demokratien“: https://seppsblog.net/2017/02/10/wehret-den-anfaengen-gesellschaftlicher-spaltung/. Darauf müssen wir uns einstellen: dass andere anders sind und nicht automatisch das gleiche denken und wollen wie wir. Wenn wir Gemeinsamkeiten wollen, müssen wir sie herstellen.
Diskussions- und Definitionsprozesse organisieren
Dafür haben wir noch viel zu wenig Verfahren, aber auch zu wenig Erfahrung, um Konflikte unterschiedlicher Interessen zu managen und diese in einem fairen Ausgleich unter einen Hut zu bringen. Aber nur wenn uns das gelingt, erfahren wir uns nicht lediglich als bloß widersprüchlich gegeneinander, sondern als zusammen an einem Projekt Arbeitende. Dafür brauchen wir Gelegenheiten und Orte, an denen wir miteinander ins Gespräch kommen und uns dadurch als zugehörig oder wenigstens einander zugewandt erleben. Ein solcher Ort war und ist der Stammtisch. Den Platz am Stammtisch hat man sich nicht erkauft durch Gleich-zu-gleich-Geselligkeit, Likes, Freundschaftsanfragen oder Wohlverhalten. Am Stammtisch sitzt man, weil man da hingehört, als Teil der Dorfgemeinschaft, als Mitglied des Sportvereins oder welcher Gruppe auch immer. Weil kein vereinheitlichendes Auswahlverfahren stattfindet, muss man mit unterschiedlichen Sichtweisen zurande kommen. Vor allem aber muss man selbst bei einem Streit so auseinandergehen, dass man sich beim nächsten Stammtisch wieder begegnen und friedlich an einem Tisch sitzen kann.
Landtagsstammtisch auf Radio Lora: 20. Februar 21 Uhr
Am 20. Februar treffen wir uns zum ersten Mal zum Landtagsstammtisch: von 21 bis 22 Uhr auf Radio Lora 92,4 – http://lora924.de/?page_id=7853. Was läuft im Landtag? Darüber spreche ich jeden 3. Mittwoch im Monat mit Menschen, die im Maximilianeum arbeiten. Gast im Studio ist diesmal die Filmemacherin und neu gewählte Münchner Abgeordnete Sanne Kurz. Ruft an und redet mit! Unter 089 – 48952305 landet Ihr bei mir im Studio 1.