Über Geschmack muss man streiten
Niemand will sich gern von anderen seinen Schweinsbraten madig machen oder gar die Steuervorteile für sein bevorzugtes Partnerschaftsmodell streichen lassen. Aber jede Infragestellung der eigenen Privilegien lauthals als Diskriminierung zu ächten und die eigenen Gewohnheiten so sakrosankt stellen zu wollen, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Wenn bis heute Mehrheiten und potentielle Mehrheitsführer mit ihren Lebensformen werben und sie als selbstverständlich oder sogar als Wettbewerbsvorteil herausstellen, rücken sie andere in die zweite Reihe: Etwa wenn Spitzenkandidaten mit Frau und/oder Kindern in den Wahlkampf ziehen (legendär: „Die Stoibers“) oder sich und ihre Partei in der „Leberkäs-Etage“ verorten. Umgekehrt wird jedes Infragestellen solcher stummen Normen bzw. des Propagieren dessen, was angeblich „normal“ ist, als unmoralischer Tiefschlag und Angriff unter der Gürtellinie gebrandmarkt: Da soll das dann auf einmal ganz privat und dem öffentlichen Diskurs entzogen sein.
Kritik von Lebensformen
Das Buch von Rahel Jaeggi – http://www.suhrkamp.de/buecher/kritik_von_lebensformen-rahel_jaeggi_29587.html – werden vielleicht nicht alle mit reinem Vergnügen lesen. Aber wir sollten uns davon nicht entmutigen lassen und die darin entwickelten Anstöße aufgreifen und erörtern. Denn sie könnten für uns, die wir am dringend nötigen gesellschaftlichen Wandel arbeiten, als Wegweiser und Türöffner äußerst nützlich sein. So greift Jaeggi beispielsweise die hergebrachte Maxime an, über Geschmack lasse sich nicht streiten. Seit den Aufklärern, schreibt sie, „gehört der Wunsch, sich hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens nicht von (philosophischen) Sittenrichtern ‚hereinreden lassen‘ zu wollen, zu den unhintergehbaren Komponenten unseres modernen Selbstverständnisses“. Das scheint uns so unbestreitbar, dass uns allein die Vorstellung, jemand wolle bestimmen, was uns zu schmecken oder zu gefallen habe, schon lächerlich vorkommt. Damit blenden wir in Gänze aus, dass unsere Vorlieben in der Regel nicht nur ganz spezifische gesellschaftliche, wirtschaftliche oder ökologische Folgen, sondern auch entsprechende Ursachen haben.
Das Private ist politisch
Wir wissen längst, dass wir unsere vermeintlich gar so individuellen Neigungen und Präferenzen durch Nachahmung, Gewöhnung, Geschmackserziehung erwerben. Familie und Herkunft generell prägen uns so, dass sich in unseren scheinbar privatesten und persönlichsten Eigenheiten schichten- und gruppenbezogene Distinktionsmerkmale verbergen. Wir signalisieren, wer wir sind, für wen wir uns halten bzw. gehalten werden wollen. Pierre Bourdieu – z.B. http://www.suhrkamp.de/buecher/die_feinen_unterschiede-pierre_bourdieu_28258.html – hat schon vor vielen Jahrzehnten gezeigt, dass selbst Fragen, ob und welches Haustier wir uns halten oder welchen Alkohol wir trinken, Hinweise auf unsere gesellschaftliche Stellung enthalten (sollen) und an die politische Ausrichtung gekoppelt sind. Als Bourdieu diese quasi naturwüchsigen, weil unreflektierten sozialen Mechanismen offenlegte, waren sie schon nur noch eingeschränkt wahr. Denn schon damals waren Heerscharen von Spezialisten der Konsum- und Kulturindustrie damit befasst, derartige Prägungsmuster im Sinne ihrer Auftraggeber zu nutzen und zu manipulieren.
Selbst verschuldete Dummheit
Wenn wir die Entstehungsgeschichte unserer sozialen Praktiken bzw. Lebensformen leugnen, „geraten wir in Gefahr, sie auf unangemessene Weise als gegeben hinzunehmen“. Wir, so Jaeggi weiter, „entziehen damit Themenbereiche der rationalen Argumentation, die man aus dem Einzugsbereich demokratisch-kollektiver Selbstbestimmung nicht herauslösen sollte“. So bleiben wir nicht nur selber absichtlich dumm bzw. in der legendären selbst verschuldeten Unmündigkeit, sondern auch kollektiv, weil wir uns über wichtige Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens nicht verständigen. Wenn wir diese „privaten“ Bereiche künstlich remystifizieren als „natürlich“, überlassen wir sie damit den interessierten Fingern anderer zur Manipulation nach deren Vorgaben. Denn, darauf verweist Jaeggi, „die ethische Frage, ‚wie zu leben sei‘, lässt sich aus den Prozessen individueller, aber auch kollektiver Willensbildung gar nicht so leicht ausklammern. Sie ist in jeder gesellschaftlichen Formation implizit oder explizit immer schon beantwortet.“ Das bedeutet, wer sich dieser Frage nicht bewusst stellt, lässt andere entscheiden. Umgekehrt ist es für uns, die wir das Vorgefundene nicht einfach als gegeben hinnehmen können, sehr hilfreich, dass sich damit die Tür zur Kritik an sozialen Praktiken bzw. Lebensformen öffnet.
Nichts ist über jede Diskussion erhaben
„Über Lebensformen lässt sich streiten, und zwar mit Gründen streiten.“ Und wir müssen gerade deshalb streiten, weil die Lebensformen der anderen unsere eigenen dominieren wollen: „Mit Lebensformen sind Geltungsansprüche impliziert“, sie zeichnet laut Jaeggi gerade aus, dass sie beanspruchen, die angemessene Lösung für eine konkrete Situation zu sein – und damit andere Praktiken diskriminieren. Und, was oft unterschlagen wird, sie erfordern „politisch-ökonomische Rahmenbedingungen. Schon die Existenz von Einfamilienhäusern hängt ab von institutionellen (und politisch verfassten) Bestimmungen, wie Bebauungsplänen oder der staatlichen Eigenheimförderung; das familiäre Leben mit Kindern ist geprägt von der Existenz oder Nichtexistenz öffentlicher Betreuungseinrichtungen“ etc. Es gibt also gute Gründe, vorherrschende soziale Praktiken nicht als gegeben zu akzeptieren, sondern kritisch zu stellen. Wenn wir sozial- und klimaverträgliche, weltweit verallgemeinerbare Lebensformen finden wollen, müssen wir über vermeintlich private, persönliche Geschmacksfragen – wie z.B. Essgewohnheiten http://www.euractiv.de/sections/entwicklungspolitik/wwf-studie-ernaehrung-befeuert-klimawandel-und-umweltzerstoerungen-0 – öffentlich streiten.
Auf Twitter bewerben Sie diesen Eintrag mit dem Stichwort „klimaverträgliche Lebensformen“. Als Beispiel ist dann nur Ernährung genannt, und dafür mehrfach.
An der grünen Basis geht das Gerücht um, Fleisch essen sei für das Klima schädlicher als Flugreisen. Das stimmt aber nur, wenn man die gesamte Menschheit in die Bilanz einbezieht, wobei weit über 90 % der Menschen noch gar nie geflogen sind und womöglich nie fliegen werden. In Deutschland fliegt niemand so viel wie die Wählerschaft der Grünen. Vielleicht solltet ihr das Theater um den Veggieday um den Aufruf an eure Politiker und eure gut situierte Basis ergänzen, die nächsten 10 Jahre auf Flugreisen zu verzichten. Könnte aber sein, dass ihr dann an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert.
Es gibt da einen schönen Cartoon, weiß leider nicht mehr von wem: Jemand fragt ein Ehepaar: „Ihr heizt eine große Altbauwohnung, habt ein Auto, fliegt in den Urlaub … was tut ihr für die Umwelt?“ – „Wir wählen die Grünen!“
Auch interessant: Fleischlos klimafreundlich?
http://www.heise.de/tp/artikel/39/39650/1.html
Genau darauf zielt mein Beitrag: er will intensive Diskussionen über unseren konsumorientierten Lebensstil anregen bzw. zu allererst ermöglichen. Denn schon die Auseinandersetzung darüber soll häufig erschwert oder gar verwehrt werden. Die Debatte wird dann nicht inhaltlich geführt, sondern hält sich bei der Frage auf, ob man sie überhaupt führen darf, z.B. weil das angeblich unmoralisch, undemokratisch, verlogen, taktisch unklug oder was weiß ich sei.
Sehr guter Kommentar, lieber Sepp. Ich sollte mir das Buch von Jaeggi wirklich mal zulegen.
Mir scheint, dass das Problem mit dem sakrosankt-sein von Lebensstilen nicht nur ist, dass über sie nicht diskutiert werden darf. Ebenso schwerwiegend ist der Automatismus, mit der Personen mit kritisiertem Lebensstil diese Kritik auf sich selbst beziehen; nach dem Motto: problematisierst du meinen hohen Fleischkonsum, fühle ich mich auch als Schuldiger entlarvt. Kritik impliziert moralische Schuldzuweisung. Dein Blogeintrag hingegen zeigt schön auf, dass die „Schuld“ für Lebensstile eben auch außerhalb der eigenen Person liegen kann. Das heißt aber, als Grüne haben wir eine doppelte Aufgabe: Lebensstile zu enttabuisieren und Schuldempfinden zu problematisieren. Das wird nicht leicht 🙂
Eine Falle, in die man mit diesem Konzept der „gesellschaftlich gemachten Lebensstile“ tappen könnte, liegt in der Bagatellisierung des individuellen Entscheidungsspielraums. Plakativ gesagt: wenn für alles die Gesellschaft schuld ist, wo liegt dann noch meine moralische Verantwortung für mein eigenes Handeln? Wir müssen also aufpassen, das Argument der gesellschaftlich gemachten Lebensstile nicht so weit zu strapazieren, dass wir für individuelle Freiheiten (und damit moralische Verantwortung) keinen Platz mehr lassen. Wird schwer, hier einen Weg zwischen Skylla und Charybdis zu finden.
Vielleicht ist hier ein Element von Giddens Strukurationstheorie hilfreich: die Ko-Produktion von sozialen Praktiken. Individuen werden von den Praktiken beeinflusst, reproduzieren sie aber auch durch ihre Wiederholung. Auf nachhaltige Lebensstile gemünzt: Hoher Fleischkonsum ist eine soziale Praktik, die viele prägt, die aber auch von vielen aufrecht erhalten wird. Was heißt das für die Verantwortungsfrage? Für die gesellschaftliche Akzeptanz deines Fleischkonsums kannst du nichts, und damit auch nichts dafür, dass du es erstrebenswert findest. Kannst du dich aber im Rahmen deiner Möglichkeiten gegen Fleischkonsum entscheiden, solltest du es tun. Die Verantwortung setzt ein, wenn die Hürden für alternative Entscheidungen gering sind, also Möglichkeiten bestehen. Das ist der Fall, wenn Fleisch teuer oder andere Lebensmittel verhältnismäßig günstiger sind. Das ist auch der Fall, wenn fleischlose Ernährung kulturell attraktiv wird (etwas, was politisch kaum zu steuern ist). Ich glaube, es lohnt sich, hier als Partei eine differenzierte Sprechweise zu entwickeln.