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Archiv für den Monat Juni 2014

Fußballer demonstrieren ihre körperlichen Reize deutlich offensichtlicher und offensiver als früher: Modellierende Trikots, die den Six pack wie ein Brustpanzer nachformen, aber natürlich nur, wenn er vorher herausgearbeitet wurde im Work out; Trikots, die jubelnd heruntergerissen werden, um den Six pack zu zeigen; bunteste, kräftige Farben, selbst die Schuhe sind längst nicht mehr schwarz, sondern neon gelb oder rot, und die ganz Eitlen tragen verschiedenfarbige Schuhe. Mit Haut und Haar wird am neuen Schönheitsideal gearbeitet. Aber nicht nur die Physis wird herausgestellt, auch Emotionen werden vorexerziert: Es wird geheult auf dem Platz, umarmt, geküsst, besprungen und sogar getanzt – also alles, was „normale“ Männer heute in der Öffentlichkeit stets verweigern. Nur Knabbern und Beißen gilt noch als unsportlich und unmännlich.

Der neue Mann
In meiner Jugend und selbst noch vor wenigen Jahrzehnten wären so demonstrativ eitle Männer undenkbar gewesen: Fußballer, die sich „wie Mädchen“ aufführen, in Pose schmeißen oder theatralisch wehklagen, sich eincremen und parfümieren, zu lange föhnen oder zu warm duschen. Spätestens Beckham hat den Umbruch sichtbar gemacht, in allen Hochglanzmagazinen und auf öffentlichen Werbeflächen, ein eher metrosexueller, eher sanfter Mann, der den Sitz seiner Frisur aller Welt und selbst in China noch und für Geld seinen wohlgeformten Körper und seine topschicken Unterhosen zeigen musste. In ihrem offensichtlichen Interesse und ihrer Arbeit am Körper weit über jede Funktion hinaus sind die Fußballhelden nur die augenfälligste Avantgarde eines gesellschaftlichen Umbruchs, mit dem der Pflichtenkodex für Männer neu definiert wird.

Bein zeigen
Hegel sagt, die Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce. In der Mode ist das nicht nur kein Problem, sondern stilbildend. In ihrem Buch „Angezogen“ verbindet Barbara Vinken die Geschichte der Mode mit dem Männerbein: „Hat man die Mode in der Mitte des 13. Jahrhunderts mit dem Moment beginnen lassen, in dem Männer die langen Gewänder ablegten und Bein zeigten, dann beginnt die Mode der Moderne in dem Moment, in dem Männer ihre Beine bedecken: lange Hosen statt straff sitzender Strümpfe.“ Die bürgerliche Revolution kehrt nicht nur die aristokratischen Werte um, sondern macht das auch modisch sichtbar: „Vor der Revolution zeigten die Männer Beine, Po und Geschlecht. Im Gegensatz dazu verbargen die Frauen all dies strikt.“ Nach der Revolution stellen Frauen ihren Körper zur Schau und umgekehrt demonstrieren erotische Reize nur grenzüberschreitende oder ausgegrenzte Männer.

Krieger und Kämpfer
Am bestrumpften Bein, das nun den Frauen vorbehalten ist und das derzeit so sichtbar dominiert, weist Vinken nach, dass viele Elemente zeitgenössischer Frauenmode ihren Ursprung in der Militärkleidung haben. Die „spektakuläre“ „Mode der körperlich aggressiven Männer, der Soldaten etc.“ wurde stilbildend: „Sie zeigten und schmückten die vor Kraft strotzenden Körperteile, die beim Verletzen nützlich waren. … Es ging darum, im wahrsten Sinne des Wortes zu imponieren.“ Aber was sonst in der heutigen Zeit dem Manne noch verwehrt ist, der Fußballer darf es schon: Auch er macht, wie die Frauen, „Anleihen in der Mode der waffentragenden Männer“. Auch der seine wird „als aggressiver Körper exponiert“, auch er zeigt Bein. Und von den römischen Gladiatoren und Legionären übernimmt er die Modellierung der Brustbekleidung: „Das T-Shirt naturalisiert diesen Brustpanzer der Soldaten. Die Muskeln müssen jetzt folglich, um sich abzeichnen zu können, tatsächlich antrainiert werden.“ In diesem Sinne ist der Fußballer der modernste Mann.

Mit Haut und Haar
Beim Rückgriff auf Kriegertraditionen dient die ganze Weltgeschichte als Fundus: Vom römischen Legionär stammt der Brustpanzer, vom Renaissance-Söldner das bestrumpfte Bein, vom Irokesen der Haarschnitt (zuweilen zum römischen Helm gestylt), vom Maori-Krieger die Tätowierung. Aber die kommt nicht nur von diesem, denn, sagt Vinken, die „Praxis des Körperzeichnens ist überraschenderweise etwas Ureuropäisches. Schon der europäische Ureinwohner Ötzi war tätowiert.“ Und: „Die antiken Kulturen zeichneten durch Brandmarkung oder Stigmatisierung – also ganz wörtlich durch Körperinschriften – bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Sklaven, Schauspieler, Soldaten, Gladiatoren oder Prostituierte. Die Zeichen im Fleisch … schlossen aus der Gemeinschaft aus.“ Erst das Verbot durch die christliche Staatskirche machte die spätere, sich selber stolz stigmatisierende Auszeichnung der gesellschaftlich Ausgeschlossenen möglich.

Schwul oder nicht schwul, das ist hier die Frage
Offenbar sind Fußballer hier die Avantgarde im Kampf um die Rückeroberung verlorener männlicher Privilegien, nämlich der „aristokratischen Zurschaustellung des Körpers“. Alle Männer, die es vor ihnen versuchten, mussten dafür mit dem Verlust ihrer „Männlichkeit“ und des gesellschaftlichen Status zahlen: „Was die Männermode anging, so gerieten die, die ihren Körper wie die Höflinge reizend zur Schau stellten, mit der Aufklärung und ganz und gar dann mit dem 19. Jahrhundert in den Ruch des Weiberhelden oder des Schwulen.“ Ein letztes Beispiel: Rote Schuhe zu tragen hatte der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. per Gesetz noch dem Hof vorbehalten. Bis vor kurzem hätte das bei einem Mann noch als bestenfalls „affig“ gegolten, auf dem Fußball-Platz hätte er kräftig auf die Socken bekommen. Was als „männlich“ gilt, wird also gerade neu ausgetestet. Diese Grenze ist im Fluss, gleichzeitig aber auch extrem schmal. Das erklärt vielleicht, warum Fußballer schwul tun, es aber nicht sein dürfen.

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Demokratie – also mit Vielfalt, Gleichberechtigung und Mitbestimmung zu leben – ist gar nicht so einfach. Sie würde nämlich erfordern, dass man die anderen ernst nimmt. Auch die Deppen. Oder die lediglich vermeintlichen Idioten. Selbst wenn ich mich vor manchen Entscheidungen oder Vorlieben der Vielen trotz Jahrzehnten Gewöhnung noch grusele, frage ich mich doch: Was treibt die dazu? Kann es nicht sein, dass sich nur allzu verständliche, ja berechtigte Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte bloß unzureichend, unglücklich, vergeblich oder gar verheerend austoben? Handelt es sich vielleicht gar um solche, die ich teile? Mir scheint häufig, dass nicht die Bedürfnisse fragwürdig sind, sondern die Art, wie sie sich – meist vergeblich – befriedigen wollen. Zum Beispiel Bedürfnisse nach Sicherheit, Heimat, Zugehörigkeit oder danach, etwas zu bedeuten oder ein bedeutendes Leben zu führen.

Endlich die nationale Sau rauslassen?
Fragwürdig ist ja am derzeitigen Fußball-WM-Zirkus jede Menge: Von schamlos posender Kanzlerin bis unsäglichem Blatter, von Verschwendung und Korruption bis zu Exzessen der Konsum- und Kulturindustrie. Auf https://www.youtube.com/watch?v=2rAv7Ff4eUA hat, uns zur Warnung, jemand den alten Adorno ausgegraben: „Wird eine Fußballweltmeisterschaft vom Radio übertragen, deren jeweiligen Stand die gesamte Bevölkerung aus allen Fenstern und durch die dünnen Wände der Neubauten hindurch zur Kenntnis zu nehmen gezwungen ist, so mögen selbst spektakulär verschlampte Gammler und wohlsituierte Bürger in ihren Sakkos einträchtig um Kofferradios auf dem Bürgersteig sich scharen. Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen.“ Wohl dem, der dicke Wände hat.

Der Deutschen Vaterland
Adorno hört sich gestochen intellektuell und anregend an, da bekomme ich gleich Lust, ihn wieder aus dem Regal zu holen. Es ist die hohe Warte, von der aus ich mit ihm über und ins intellektuelle Flachland blicken darf: „Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens“. Unser Verhältnis zu unserem Land wird nie „normal“ sein können, wenn das bedeutet, „unbelastet“ farbige Fähnchen zu schwenken und in „Deutschland“-Rufe auszubrechen. Wir werden uns immer wieder mit Fug und Recht daran erinnern müssen, dass schon die Generationen vor uns oder die Neonazis heute ähnlich Fahnen geschwenkt und gebrüllt haben, bevor sie zu Taten schritten, auf die nur Menschenverächter und Verbrecher stolz sein wollen. Aber das kann doch nicht heißen, dass wir uns jede Freude vergällen müssen.

So spielerisch kam Deutschland nie daher
Irgendwann macht auch die schönste intellektuelle Selbstgeißelung wegen „falscher“ Gefühle und Bedürfnisse keinen Spaß mehr. Selbst wenn Adorno uns mit diesen „unbestechlichen“ Einsichten beglücken und intellektuell schmeicheln mag, fühlen wir uns bei ihm mit unseren lebendigen Bedürfnissen und der Freude am Spiel nicht ganz „aufgehoben“, weder Hegelsch noch sonst wie. Wir fühlen doch: Das ist nicht mal die halbe Miete. Adorno gibt leider keine dialektische Antwort, er bietet nur steriles Besserwissen. Geschichtliche Verantwortung bedeutet, dass wir aufpassen, dass unsere Begeisterung und unsere Leidenschaften nicht kippen, dass sie nicht aus- und wir nicht andere schlagen. Es darf nicht ernst, schon gar nicht blutiger Ernst werden, aber es darf im Spielerischen bleiben. Und dafür ist doch Fußball und speziell der derzeitige Stil unserer Nationalmannschaft das beste Übungsfeld.

Das Spiel der Demokratie
Viele meiner Generation haben früher zu anderen Nationalmannschaften gehalten, egal wie mies die Fußball spielten. Sie haben das Spiel unserer Mannschaft schlecht geredet – wozu sie meist nicht mal übertreiben mussten. Manche fragen sich noch heute: Warum nicht überhaupt den ganzen Zirkus ablehnen? Zum einen macht Fußball schauen (und spielen) schlicht Spaß. Zum anderen hat Fußball einen zivilisatorischen Effekt. Darauf hat der Soziologe Norbert Elias hingewiesen: http://www.sepp-duerr.de/upload/pdf/100529_MM_Interview_Fuball.pdf. Er ist geradezu ein Sinnbild demokratischer Konflikt- und Gewaltbewältigung. Fußball fesselt außerdem, weil er authentisch ist, meint Armin Nassehi: „Fußball ist eine riesengroße Inszenierung, aber das Spiel selbst ist echt. Sobald angepfiffen ist, ist alles offen. Sogar eine Mannschaft mit einem 200 Mal höheren Etat als die gegnerische kann gegen diese verlieren. An solche echten Situationen sind wir in modernen Gesellschaften immer weniger gewöhnt.“

Gesellschaftliche Utopie
Vor allem aber gehe es darum, erklärt Nassehi, „Teil einer großen Geschichte zu sein“ – http://www.uni-muenchen.de/aktuelles/spotlight/2014_meldungen/fussball_tonspur.html:
„Sogar wer eine Deutschlandflagge sonst nur mit der Kneifzange anfassen würde, hängt sie sich jetzt ans Auto.“ Dieser Wunsch, Zugehörigkeit auszudrücken, habe eben nicht nur mit dem Sport zu tun. Es geht auch um ein tiefes Bedürfnis, das in jedem von uns steckt: mit anderen gemeinsam was Sinnvolles zu machen. Dieses Bedürfnis wird gesellschaftlich sonst nirgends befriedigt. Das Schlimme ist, dass die Deutschen die Erfahrung, dass alle an einem Strang ziehen, eigentlich nur im Krieg, im Überfall auf andere Völker gemacht haben. Man denke nur an die Kriegsbegeisterung am Anfang des ersten Weltkriegs. Fußball bietet ein positives Ersatz-Ziel. Er ist nicht zuletzt ein Symbol für ein gesellschaftliches Zusammenleben, wie wir es uns wünschen, aber bisher nicht bekommen.