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Archiv für den Monat Juli 2013

Von Harald Welzer kann man sehr viel lernen. In Büchern wie „Selbst denken“ arbeitet er heraus, wie soziale Veränderungen funktionieren und wo Hebel dafür sein könnten. Und dabei zeigt er auch auf, dass die meisten damit zusammenhängenden Fragen kulturelle sind. Damit entwickelt er weiter, was er schon zusammen mit Claus Leggewie („Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“) entworfen bzw. gefordert hat: Es geht nicht ohne „Kulturrevolution des Alltags“, und zwar unseres eigenen Alltags. Denn wir sind vielleicht Teil der Lösung, sicher aber Teil des Problems.

Aufwertung der Politik
Wenn Welzer die individuelle Verantwortung in den Mittelpunkt stellt, bleibt er nicht bei reinen Verhaltensänderungen und Konsumkritik stehen. Denn: „In der Diskussion über Konsumentenverantwortung und Consumer citizenship wird übersehen, dass der Konsumbürger nur reagieren, aber nicht gestalten kann“, schreibt er in „Selbst denken“. „Der Markt unterliegt dem Bürger; der Konsumbürger unterliegt dem Markt. Deshalb kann es so etwas wie kritischen Konsum überhaupt nicht geben.“ Obwohl er also der Politik als Tätigkeitsfeld eine besondere Rolle zuweist, bleiben diesbezügliche Handlungsmöglichkeiten seltsam blass bzw. geraten nur als Negativfolie ins Blickfeld.

Kritik an der Ökobewegung
Offenbar gilt: Je näher jemand Welzer politisch oder sozial steht, desto schärfer fällt seine Kritik aus. Das bekommen nicht nur Klimaforscher, sondern die Ökobewegung generell zu spüren. Vor ihm bestehen können nur pragmatische Versuche, „ein richtigeres Leben“ zu führen – als ob die nicht Teil und Ergebnis der Ökobewegung wären. Während er einzelne ihrer Projekte als Vorwegnahme der Zukunft („Futur Zwei“) heraushebt, kritisiert er die Bewegung für ihren angeblich „antiutopischen Zug“. Da muss man schon ein großes Bedürfnis nach Distinktion haben, um so ein Konstrukt für glaubhaft zu halten: Die goldenen Früchte gegen den verkommenen Baum, der sie hervorbrachte. Wenn politische und soziale Nähe bei Welzer zu scharfer Distanzierung führt, ist es auch nur folgerichtig, dass er immer wieder gerne über die Grünen herfällt.

Die Grünen sind schuld
Attacken auf die Grünen gehören bei Welzer zum Programm. Im SZ-Interview über „Zukunft“ (2.3.13) wirft er den Grünen „das Gerede vor, es sei fünf vor zwölf. Seit vierzig Jahren ist es mittlerweile fünf vor zwölf. Das ist das Einzige, was denen zur Zukunft einfällt: alles so bewahren, wie es war. Und Apokalypse voraus.“ Die Grünen drängten nicht auf die Abschaffung des Kapitalismus und hätten keine „politische Vorstellung darüber, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die nicht dem Prinzip des Wirtschaftswachstums und der grenzenlosen Steigerungslogik folgt“. Welzer selber hat aber auch keinerlei Vorschläge zu machen. Dafür folgert er nach kruder Logik: Wer sich wie die Grünen nicht gegen Widerstände und Mehrheiten durchsetzen kann, ist selber schuld – und verantwortlich für alles daraus folgende Übel.

Abwertung der Politik
Welzer zeigt zwar die Grenzen der Moralisierung des Konsums auf, er ruft also nach Politik. Gleichzeitig aber entwertet er diese nicht nur dadurch, dass er die einzige politische Kraft, die in Richtung Transformation arbeitet, ohne Alternativen oder Änderungen vorzuschlagen, verwirft. Teil seines in „Selbst denken“ entworfenen Programms ist die Forderung, „Bündnisse zu schließen“. Aber wo sucht Welzer sie im Politischen? Er kritisiert mit Recht die Politik der vermeintlichen „Alternativlosigkeit“ (ohne sie so zu nennen): „Im Kern wollen sie alle die marktwirtschaftliche Demokratie in mehr oder minder nachhaltiger Version; niemand will die nachhaltige Demokratie in mehr oder minder marktwirtschaftlicher Version.“ Doch er pauschalisiert lieber, statt konkret zu prüfen. Auch bei den Grünen gibt es unterschiedliche Ziele, Strategien, Einsichten, also auch mögliche Bündnispartner. Wo sollen sie sonst herkommen?

Entpolitisierung
„Gesellschaftliches Interesse ist für die Jugendlichen ausdrücklich nicht mit politischem Interesse identisch. Alles, was mit Politik zu tun hat, ist deutlich negativ konnotiert“, schreibt Welzer in „Selbst denken“. Doch das beschäftigt ihn nicht. Denn er interessiert sich sehr für gesellschaftliche und soziale Handlungsspielräume, aber gar nicht für politische – und das, obwohl er „eine Repolitisierung des ökologischen und nachhaltigen Denkens: eine Definition dessen, wer man sein und in welcher Welt man leben möchte“, fordert. Aber wie das konkret laufen könnte, will er nicht so genau wissen. Lieber diskreditiert er alle gegenwärtigen Verfahren, ohne Alternativen anzubieten. Dabei erklärt er selber, dass sich die Frage nach dem „richtigeren Leben“ gerade auch politisch stellt. Am Ende steht Welzer politisch und theoretisch blank da. Statt sich gemein zu machen, ist er der wahrste Grüne: und da kann es nur einen geben.

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Günther Beckstein den persönlichen Respekt zu verweigern ist nicht einfach, wenn nicht gar unmöglich. Ich weiß es, denn ich habe es lange mit aller Kraft versucht. Ich wollte ihm den selbstgerechten, gnadenlosen Exekutor und Hetzer gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft nie verzeihen. Da kam er mir mit seiner protestantischen Demut, dem demonstrativ auf der Schädeldecke getragenen Hörgerät und seiner folgenlosen Selbstkritik nach seiner Demission oder im Landesbank-Untersuchungsausschuss gerade recht. Aber ich hab es nicht durchgehalten, denn bei Beckstein geht es nicht um Verlogenheit. Bei ihm hat das eine mit dem anderen tatsächlich nichts zu tun.

Scharfmacher ade
Wenn er jetzt geht, nach dieser letzten Sitzungswoche im Landtag, wird die Erinnerung außerhalb Frankens und der protestantischen Gemeinde vielleicht schnell verblassen. Viele wissen ja heute schon nicht mehr, was für ein Scharfmacher er war. Dafür waren die tollpatschigen Auftritte an der Seite seines Tandempartners Erwin Huber einfach zu dominant. Als Innenminister hat Beckstein in preußischer Gnadenlosigkeit den Buchstaben des Gesetzes durchexerzieren lassen. So sehr die Bayern diese Inhumanität im Einzelfall nicht verstanden, so sehr schätzten sie die generelle Abschottungspolitik. Das galt im übrigen auch für Beckstein selber: Er war sozusagen seine eigene Härtefallkommission – deren Einrichtung als Institution er immer verhinderte. Aber wer sich mit einem Einzelfall an ihn wandte, konnte mit offenen Ohren rechnen. Hilfsbereit, ganz ohne Heuchelei.

Kein Unmensch
Als ich noch relativ neu im Landtag war, kam bei Landtagsempfängen Beckstein praktisch regelmäßig am späten Abend an unseren grünen Tisch, bei halb leerem Saal – zum, Protestant verzeih, horribile dictu, Ablassbeten. Er hält es nicht aus, für ein inhumanes Schwein zu gelten, wo er doch allerchristlichst nur das Beste für die Gemeinschaft macht und ausschließlich aus Verantwortungsgefühl die Härte nicht scheut. Er ist doch kein Unmensch. Genau darin hielt ich ihn damals für „gefährlich. So aus der Nähe ist es schwer, ihn so ekelhaft zu finden und zu behandeln, wie er ist und es verdient.“ Vermutlich ist es diese „Ehrlichkeit“, die noch heute Menschen an ihm beeindruckend finden: dass er keinen Widerspruch sah und die Ausweisungspolitik genauso konsequent betrieb wie den Kampf um Einzelschicksale.

Doppelspitze und Tandem
Dieser „Ehrlichkeit“ und „Einfachheit“ kann selbst ich den Respekt kaum verweigern. Meine Frage ist nur: Was, bitte, machte der gute Mann all die Jahre in der Politik? Beckstein ist – zutiefst unpolitisch und darin manchmal entwaffnend naiv. Ich will nicht alles aus meinem Nähkästchen ausplaudern, nur was zum Verständnis notwendig ist: Im Mai vor der letzten Landtagswahl waren wir zwei grüne Fraktionsvorsitzende in die Staatskanzlei geladen, zum Zeichen eines „neuen Stils“ nach Stoiber. Was ihn von Anfang an wirklich interessiert hat und worauf er immer wieder zurückkam, selbst als wir auf andere Themen lenken wollten, war die Frage, wie Doppelspitze bei uns funktioniere. Er sei mit Erwin lange eng befreundet gewesen. Die Konkurrenz in der Nachfolgedebatte sei etwas ganz Normales gewesen. Heute wüssten sie, dass sie nur zusammen Erfolg haben könnten. Aber trotz der großen Harmonie hatte er viele ernst gemeinte Fragen nach den Abstimmungsprozessen, mit denen unsere Doppelspitze offenbar funktionierte.

Ein unbedarfter Plapperer
Es stand noch eine vierte Tasse da. Auf meine Nachfrage, für wen die denn gewesen sei, hat er uns lang und breit erklärt, dass es „im Amt“ regelrechte Besprechungen gab, wer denn nun bei unserem Gespräch dabei sein müsse, sein persönliches Büro oder der Landtagsbeauftragte. Undenkbar war ein Gespräch ohne Amt. Deshalb habe er nochmals nachfragen lassen, ob wir allein kommen, und dann entschieden, uns auch allein entgegenzutreten. Schließlich, habe er entschieden, seien wir ja „nur Grüne, keine Gangster“.
Beckstein wollte geliebt werden, er suchte Aufmerksamkeit und Anerkennung selbst bei uns, der Opposition, und plapperte vielleicht deshalb so viel. Mindestens dreimal in eineinhalb Stunden hat er sich eine integre Persönlichkeit bescheinigt, immer mit dem Verweis darauf, dass wir ihn für einen harten Hund halten mögen, aber … Sozusagen fishing for dementi. Aber damit ist er bei uns an die Falschen gekommen. Von uns kein Ton. Einmal auch ein harter Hund sein …

Leise Servus
Nach der Landtagswahl meinte ich die Erleichterung zu spüren, mit der Beckstein wieder aus der allerersten Reihe zurücktrat. Ein paar Wochen später hab ich ihn in der Landtagsgaststätte (nicht der „Landtagskantine“ – die ist ausschließlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landtagsamtes vorbehalten) getroffen. Als er freundlich grüßte, bin ich auf ihn zugegangen und hab ihm viel Glück gewünscht. Daraufhin konterte er locker aus der Hüfte: „Ich muss jetzt wieder lernen, selber zu essen.“ Ich hab ihm, falls benötigt, Hilfe zugesagt. Dazu stehe ich auch heute noch.

„Korpsgeist“, „Tradition“ oder „Geist des Hauses“, das sind Begriffe, die darauf verweisen, wie hartnäckig sich einmal eingeführte Gewohnheiten und Perspektiven, also „Kulturen“ in Verwaltungen, Ämtern und Behörden fest- und fortsetzen. Nun wissen wir längst, dass so auch die „Stunde Null“, also der vermeintliche Neuanfang in der Demokratie nach der Nazizeit überbrückt wurde.

Nazis in der Staatsregierung
Möglich gemacht hat das eine bestürzende personelle Kontinuität. Das geht aus meiner Anfrage an die Staatsregierung vom 31.1.12 trotz deren schlampigen Antwort vom 13.2.13 – http://www.sepp-duerr.de/front_content.php?client=1&lang=1&idcat=32&idart=1565&m=&s= – überdeutlich hervor: Bis 31.3.47 wurden von der Militärregierung 64% der früheren Beamten als Nazis entlassen, aber danach waren fast alle zum 1.1.52 wiedereingestellt. Bei den Polizisten waren es ¾, die nach 45 aus politischen Gründen entlassen, dann aber fast alle wieder eingestellt wurden. Diese Zahlen zeigen, wie sehr der öffentliche Dienst auch nach dem Krieg und der „Entnazifizierung“ wieder von Altnazis durchsetzt war.

Landtag beschließt auf meinen Antrag eine Historikerkommission
Das ist aber nicht lediglich ein längst vergessener Skandal und eine große Ungerechtigkeit gegenüber den Opfern der Nazis, insbesondere auch denen, die aus der staatlichen Verwaltung auf Dauer vertrieben worden waren. Die Wirkung auf die politische Kultur vieler Behörden wurde von diesen selber bis heute nicht reflektiert, sondern offenbar bruchlos tradiert. Vom überbordenden Misstrauen staatlicher Behörden gegenüber der eigenen Bevölkerung, über rassistisches Profiling bis zu systematischem Verleugnen und Vertuschen von Fehlern oder gar Gesetzesverstößen zu Lasten von Bürgerinnen und Bürgern: Hier gibt es einiges an Demokratisierung aufzuholen. Deshalb habe ich einen entsprechenden Antrag – http://www.sepp-duerr.de/upload/pdf/130320_A_NS-Belastung.pdf– gestellt, der sich auch an die Behörden selber richtet. Erfreulicherweise hat der Kulturausschuss einhellig eine interfraktionelle Forderung an die Staatsregierung beschlossen: Mögliche NS-Belastung der Staatsregierung systematisch aufarbeiten: Bestandsaufnahme erarbeiten und unabhängige Historikerkommission einrichten, Drs. 16/17486 – http://www.sepp-duerr.de/front_content.php?client=1&lang=1&idcat=32&idart=1582&m=&s=.

Die braunen Wurzeln des Verfassungsschutzes
In einzelnen Behörden wie etwa dem Verfassungsschutz wirkte das Personal, das gerne aus Altnazis rekrutiert wurde, besonders prägend. Deshalb haben wir außerdem selber eine Studie zur Nazi-Vergangenheit des bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz in Auftrag gegeben, die wir am 22.7. im Landtag vorstellen werden: http://www.gruene-fraktion-bayern.de/termine/die-braunen-wurzeln-des-bayerischen-landesamts-fuer-verfassungsschutz.

Deutsche Misere
Wie systematisch und Verdrängung und Tradierung schon vor Ende des Krieges bei Altnazis funktionierte, hat Saul K. Padover in seinem bei Eichborn erschienenen Buch „Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45“ festgehalten: „Ich bin nur zwei Deutschen begegnet, die nicht vor Selbstmitleid troffen, die nicht jammerten und sich nicht als unschuldig und völlig bedeutungslos hinstellten. Einer der beiden war Thesen. Thesen war ein ganzer Mann, ein Mensch, wie man ihn selten in Deutschland findet. Er besaß ein Gewissen, er hatte ein moralisch geprägtes Politikverständnis, er bewies Mut und er hatte Humor.“ Dieser Georg Thesen weiß wie man einen Nazi erkennt: „Man muss nur fragen, wie jemand zu der sozialen Frage steht. Sie werden feststellen, dass ein wahrer Nazi keine sozialen Ideale hat. Fragen Sie ihn, was er von Konzentrationslagern wusste und der Behandlung der Juden. Sie werden merken, dass ein wahrer Nazi jedes Wissen oder jede Verantwortung leugnet. Wenn er es leugnet, dann fragen Sie ihn, warum er sich nicht für seine Mitmenschen interessiert. Gibt er sich als unpolitisch aus, dann wissen Sie, dass er lügt – unter den Nazis konnte niemand unpolitisch sein.“ Dieses Phänomen kollektiver Verdrängung war lange virulent, es gab offenbar nur totale Entschuldigung oder Kollektivschuld. Was es genauso immer noch gibt, ist die fehlende Empathie für fremdes Leid, etwa bei den Vertriebenenverbänden. Viele sehen nur, was sie erlitten haben, das macht sie aber noch lange nicht empfänglich für fremde Leiden.

Hartherzigkeit bis heute
Kurt Pfahl erklärt Padover, was „ihn so fertig mache, sei nicht die Brutalität der Nazis, sondern die Hartherzigkeit der Deutschen.“ Woher kommt diese Verhärtung? Weil sie kein Gefühl für sich selbst entwickelten? „In ihrer Unterwürfigkeit vermittelten sie manchmal den Eindruck, als würden sie einen gnadenlos an die Wand stellen, wenn sie die Macht dazu hätten. Irritiert ahnte man, welches Chaos in ihnen herrschte, ein ungezügeltes Chaos, das sich für alle Zwecke dienstbar machen ließ. … Im deutschen Polizeistaat waren Ausweise etwas Heiliges, Papiere verhießen Sicherheit. Erst sehr viel später, als ich in Buchenwald in einer Ecke die Leichenberge und in einer anderen die sorgfältig aufbewahrten Papiere der Ermordeten sah, wurde mir eine Eigentümlichkeit der Deutschen bewusst: es machte ihnen nichts aus, Menschen zu verbrennen, aber Dokumente wurden niemals verbrannt.“ Wie hartherzig bayerische Behörden bis heute sein können, zeigen sie unter Beckstein wie Hadertauer und Herrmann im Umgang mit Asylbewerbern, aber auch anderen Schwachen unserer Gesellschaft.