Die Ausschreitungen in Dortmund und anderswo haben mit Fußball nichts, aber auch gar nichts zu tun. Gewalt ist eben kein originäres Problem des Fußballs. Da läuft in unserer Gesellschaft einiges schief, wenn Tausende meinen, dass sie ihr Alltagsleben nur noch mit Gewaltexzessen überhöhen können. Feierabend-Machos suchen sich eine öffentliche Bühne, um ihrem Leben einen Kick und anderen einen Fußtritt zu geben. Ihre klägliche Selbstdarstellung will die größtmögliche Aufmerksamkeit und die bekommt sie da, wo die Medien sind und die Massen. Es gibt kaum Orte, die mehr im öffentlichen Scheinwerfer stehen. Aber die Gewalt geht nicht vom Fußball aus. Im Gegenteil.
Zivilisation heißt gewaltfreier Interessensausgleich
Der Soziologe Norbert Elias hat sich sein Leben lang mit Zivilisationsprozessen beschäftigt. Das Schlüsselproblem sei die Frage, sagt Elias, wie Menschen ihre elementaren Bedürfnisse im Zusammenleben mit einander befriedigen können, „ohne dass die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse des einen Menschen oder der einen Gruppe von Menschen auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung eines anderen oder einer anderen Gruppe geht“. Das ist natürlich die zentrale globale Frage heute. Wir sind noch weit entfernt von einem zivilisierten Wirtschaftssystem. Unseres lebt ja gerade davon, Kosten auf andere und insbesondere auf die Zukunft zu verschieben. Elias zählt eine zunehmende Demokratisierung zu den Elementen eines Zivilisationsprozesses. Und dazu kommt noch das, was er „Pazifizierung“ nennt: die Fähigkeit, gesellschaftliche Konflikte zivil und nach Regeln auszutragen. Als Beispiel dafür nennt er ein parlamentarisches Regierungssystem: das erfordere einen hohen Grad an Selbstkontrolle. Nur diese Selbstkontrolle hindere „alle beteiligten Individuen daran, Gegner mit Gewaltmitteln zu bekämpfen oder die Regeln des parlamentarischen Spiels zu verletzen“. Schlägereien im Parlament gibt es nicht mal in Bayern.
Fußball als zivilisatorisches Projekt
Elias zieht dabei Parallelen zum Fußball: „Ein parlamentarisches Mehrparteiensystem ähnelt in dieser Hinsicht einem Fußballspiel: Es wird gekämpft, aber nach strikten Regeln, deren Beachtung ebenfalls ein hohes Maß an Selbstzucht verlangt. Wenn der Kampf zu hitzig wird, wenn sich das Fußballspiel in eine vergleichsweise regellose Keilerei verwandelt, hört es auf, ein Fußballspiel zu sein.“ Leidenschaft und Kampfgeist gehören zum Fußball wie zur Politik. Für mich gehört auch dazu, dass man die Grenzen der Regeln auslotet und sich vielleicht sogar mal hinreißen lässt, sie zu überschreiten. Aber das Spiel macht nur Spaß, wenn man die Regeln grundsätzlich anerkennt und wenn Verstöße geahndet werden. So sehr Leidenschaft und Kampfgeist zum Fußball gehören, Gewalt gehört eben ganz und gar nicht dazu. Fußball ist ein ziviles und zivilisierendes Projekt.
Gewalt zerstört Zivilisation und damit den Fußball selber
Wenn es bei Fußballspielen zu Gewaltausschreitungen kommt, geschieht das genau aus diesem Grund. Fußball ist geradezu ein Symbol und eine rituelle Feier errungener Zivilisation. Er zelebriert die körperbetonte Auseinandersetzung zweier Gruppen nach Regeln und ohne Gewalttätigkeiten. Dieses Ritual, das unsere Gesellschaft verbindet, wird von den Gewalttätern absichtlich dementiert. Sie brauchen deshalb den Vorwand gegnerischer Fans häufig nicht mehr, sondern gehen gezielt gegen die Polizei vor. Denn die verkörpert das staatliche Gewaltmonopol und gleichzeitig die Gewaltfreiheit der Gesellschaft. Organisierte Schläger wählen den Fußball gerade wegen seiner Friedfertigkeit und Zivilisiertheit. Sogenannte Hooligans sind keine Fans. Sie attackieren das, wofür der Fußball steht.